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Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert?

Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert? Zum sog. Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche“ (Juli 2006)

Der Rat der EKD hat auf 110 Seiten durch 12 Mitglieder einer „Perspektivkommission“ skizzieren lassen, welche Erneuerungs- und Veränderungswege die evangelische Kirche beschreiten sollte, um die Zukunft Richtung 2030 zu gewinnen. Herausgekommen ist ein geschlossenes, im Rahmen seiner Voraussetzungen plausibles Impulspapier, das einen Konsultationsprozeß auf allen Ebenen der evangelischen Kirche auslösen soll. Die Frage ist, ob die Voraussetzungen den Weg zum Ziel tragen.

Runderneuerung statt Grunderneuerung

Es ist zwar ein klar durchstrukturiertes Papier, das beachtliche Impulse setzt: Konzentration auf die geistlichen Kernaufträge und geistliche Profilierung aller Handlungsfelder (Wo Evangelisch draufsteht, muß auch Evangelium drin sein). Gleichwohl ist von diesem Papier eine geistliche Erneuerung der Kirche nicht zu erwarten. Daß Jesus Christus, dem Herrn der Kirche, ein Mitspracherecht eingeräumt wurde und wird, ist nicht erkennbar. Die entscheidende Schwäche des Papiers besteht darin, dass man nicht prüft, ob sich das Haus der Kirche nicht längst von seinen Fundamenten, nämlich der Heiligen Schrift und dem reformatorischen Bekenntnis abgelöst hat und mit zunehmender Beschleunigung in den Abgrund rutscht.

Je weiter man liest, desto klarer entsteht der Eindruck: Eine marketingorientierte, betriebsorganisatorischen Methoden verfallene Führungselite hat sich aufgeklärt und emanzipiert an die Form der Kirche gemacht. Aber nicht die Form, sondern die Inhalte sind das Problem. Sie bietet Raum für beliebige Christus- und Gemeindebilder. Im kirchlichen Supermarkt lässt sich auch der Atheist noch als „anonymer Christ“ vereinnahmen, wenn er nur Kirchensteuern zahlt. Es ist bezeichnend, dass der Rat nicht um Treue zu Jesus Christus bittet, sondern Treue zur Kirche wünscht. Zwar wird 11mal auf 110 Seiten formal korrekt Jesus Christus erwähnt, aber das wirkt wie eine theologische Pflichtübung und ist erschreckend verschieden von der Klarheit der Barmer Theologischen Erklärung und Lichtjahre weit entfernt von der hingerissenen Christusliebe, die im Neuen Testament auf jeder Seite Menschen berührt und die atemberaubende Wachstumsdynamik der Alten Kirche auslöste. Kann so Kirchenreform in einer Kirche geschehen, die entstand, weil der Hunger nach Christus sonst nirgends gestillt wurde.

Organisationsmanagement statt Geisterneuerung

Das Perspektivpapier hat seine Stärke in der Übernahme von bewährten Erfahrungen aus Betriebswirtschaft, Organisationsmanagement und Personalführung. Fast auf jeder Seite begegnet das Vokabular von Unternehmensberatern und Motivationstrainern. Das betriebswirtschaftliche Kalkül, das auf den ersten Blick nachvollziehbar plausibel wirkt, erweist sich bei näherem theologisch-kritischen Hinsehen als Potemkinsches Dorf; es ist ein Haus, das auf Sand gebaut ist. Zwar verwendet das Papier den Begriff „geistlich“ noch häufiger als das Wort Qualität, aber in diesem Papier wird „geistlich“ zum Allerweltsbegriff, dessen biblische Fundierung im neuen Bezugsrahmen bedeutungslos geworden ist. Trotz dem Wunsch nach evangelischem Profil ist die Grenze nicht gezogen, jenseits derer das Evangelium verhökert wird. Bonhoeffers schneidende Kirchenkritik mit dem Bild von der billigen Gnade wird in der „Volkskirche“ beharrlich verdrängt.

Diese Mängel an biblisch-reformatorischer Klarheit werden nicht nur am Christusdefizit des Papiers sichtbar, sondern auch an den Gemeindebildern, sowie am Verständnis dessen, was den Menschen zum Christen macht. Es ist zwar zukunftsträchtig, dass die Monokultur der Ortsgemeinde aufgebrochen und durch Profil- und Richtungsgemeinden ergänzt wird. Biblisch und reformatorisch unsinnig ist jedoch die Rede von der Passanten-, der Medien- oder Internetgemeinde. Das ahnen die Verfasser selbst, aber sie verwenden den Gemeindebegriff und verspielen so Profil. Gemeinde lebt da, wo Menschen verbindlich und dauerhaft um Jesu Christi Wort und Sakrament versammelt leben.

Gestyltes Design statt geistgewirkter Originalität

Die für Bibel und Reformatoren – also für evangelische Kirche – grundsätzliche Bindung an Christus wird in weiten Teilen des Papiers zur Bindung an eine hierarchisch gegliederte, geradezu geschlossene Organisationsstruktur verfälscht, in der die Einfälle der kirchlichen Denkfabriken, folgt man der wiederholten Gedankenführung, von oben nach unten durchgesetzt werden. Einen Gewissensschutz für Gegner der Segnung schwullesbischer Lebensformen wird es in dieser Kirche nicht mehr geben. Und im Zuge des „Qualitätsmanagements“ wird der Dynamik der Gleichschaltung weiter Raum geöffnet.

In dieser stromlinienförmig gestylten Kirche wird für geistgewirkte Originale kein Platz mehr sein. Ein Seelsorger von der geistlichen Qualität des katholischen Pfarrers von Ars, durch den Gott im 19. Jh. den aufgeklärten Rationalismus der Zeitgenossen herausforderte, hätte in der zukünftigen EKD-Kirche keinen Platz, war er doch alles andere als auf der Höhe seiner Zeit. Aber in das französische Dorf, dessen Pfarrer er war, kamen Jahr für Jahr hunderttausend und mehr Menschen, Aristokraten und Bauern, Handwerker und Professoren, um in der Beichte Entlastung zu finden. Vom Beichtstuhl dieses Gottesmannes strömte Heilung an Seele, Leib und Geist in das Leben hungriger Menschen. In diesem Dorf unweit von Lyon wurde Kirche erneuert, und an finanziellen Mitteln war infolgedessen dort wie auch andern Orts, wo Gottes Geist Menschen und Strukturen erneuert, kein Mangel.

Der Rat hat ein unter Gesichtspunkten des Organisationsmanagements zweifellos packendes Perspektivpapier veröffentlicht. Es zeigt durchaus zukunftsweisende Gesichtspunkte. Aber es fehlt ihm an dem Geist, der die Toten lebendig macht. Luthers erste These von der Buße – auch dies eine zugegeben unpopuläre Definition dessen, was den Menschen zum Christen macht – bleibt außer Betracht. Wie aber will Kirche Zukunft haben, wenn sie sich der Buße verweigert?

Der brillante katholische Fundamentaltheologe Heribert Mühlen hat das Alternativprogramm unvergleichlich gründlicher geschrieben. „Kirche wächst von innen. Weg zu einer glaubensgeschichtlich neuen Gestalt der Kirche“ heißt das weiträumig und tief greifend durchdachte große Werk. Es entfaltet die These: Es wird keine neue Menschheit geben, wenn nicht zuerst die Menschen erneuert sind durch die Erneuerung aus der Taufe und ein Leben nach dem Evangelium. Diese Erneuerung geschieht durch die Annahme des Taufbundes. Sie ist der bewusste und freie Ich-Einschluß eines/einer jeden einzelnen in den Bund, den Gott in Jesus Christus neu mit seinem ganzen Volk geschlossen hat. Ein unabdingbarer Schritt auf dem Weg zu einer profilierten, identitätsstarken Kirche mit werbender Ausstrahlung ist zweifellos die einladende Bitte an jeden Getauften, eine Grundentscheidung für Jesus Christus als lebensgeschichtlichen Einschnitt zu vollziehen. Das ist biblisch, und das ist reformatorisch.