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Auf Leben und Tod

von Andreas Lombard

Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten: Fast unbemerkt von einer ansonsten stets empörungsbereiten Öffentlichkeit wird die Selektion von lebenswertem und lebensunwertem Leben in den Alltag eingeführt. Zuerst zu Beginn des Lebens, wo die Pränataldiagnostik und die Präimplantationsdiagnostik die Tür zur Selektion geöffnet haben. Nun ist es der kranke oder alte Mensch, der zum Objekt wird. Der Zerfall der Familien und die Erosion biblischer Werte bereiten den Weg zu einem als Hilfe und Barmherzigkeit getarnten Angriff auf das Lebensrecht des Menschen. Schritt um Schritt verändert sich hier eine Konvention und wird da ein Gesetz so modifiziert, dass die Tötung von Leben akzeptabel, zulässig und sogar geboten erscheint. Das Tabu, Menschen zu töten, wird, wie beiläufig, aufgelöst. Zehn Thesen zu einer bedrohlichen Entwicklung, die letztlich Ausdruck der geistlichen Misere unserer Zeit ist.

1. Sterbehilfe ist aus medizinischer Sicht unnötig

Ein alter Mann sagt: «Ich bin dem Tor des Todes schon recht nahe. Es ist für mich ein entsetzlicher Gedanke, als hilflos Kranker und ausgeliefert an andere, unwürdig dahinsiechen zu müssen.» Selbst wenn sich seine Befürchtung eines Tages als übertrieben erweisen sollte, bliebe seine heutige Sorge verständlich. Der Mensch darf sich wünschen, so wenig wie möglich leiden zu müssen. Er soll es sogar. Auch dann, wenn er sich die Schonung von der Sterbehilfe erhofft. Wünscht er sich mit der Sterbehilfe aber wirklich den Tod oder nur das Ende seiner Not? Den Wunsch nach Sterbehilfe ernst zu nehmen, bedeutet gerade nicht, den Wunsch erfüllen zu müssen. Und zwar aus drei Gründen: Erstens können mit den modernen Behandlungsmöglichkeiten der palliativen Medizin die mit dem Sterben einhergehenden Krankheitszustände wie Schmerzen oder Atemnot bis auf ein Minimum reduziert werden. Für aktive Sterbehilfe gibt es keine medizinische Notwendigkeit im Sinne einer ärztlichen Indikation. Zweitens gibt es zwar Fälle, in denen die Medizin das Sterben verweigert und das körperliche Überleben sinnlos verlängert. Hier stellt sich aber die Frage, ob auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten wäre. Ein solcher Verzicht ist keine Sterbehilfe nach der aktuellen Bedeutung des Wortes. Drittens war das Sterben in der langen Geschichte der Menschheit immer etwas, was die Menschen zu allen Zeiten und unter allen Umständen «konnten». Das Wort Sterbehilfe suggeriert aber, dass ein höchst natürlicher Vorgang auf einmal hilfsbedürftig wäre. Ausgerechnet heute, da der natürliche Tod leichter und so schmerzarm sein kann wie noch nie, soll er durch den künstlichen ersetzt werden müssen?

2. Sterbehilfe ist ein Fehlen des Guten

Aus vielen anderen Lebensbereichen wissen wir, dass Wünsche eine heikle Sache sind. Sie können für alles Mögliche stehen. Ihre Erfüllung kann enttäuschend sein. Sie können uns sogar gefährlich werden. Wünsche sind zum Glück keine Befehle. Sie sind aber fast immer Anzeichen dafür, dass wir das bessere Leben suchen. Um den leichten Tod geht es beim Wunsch nach Sterbehilfe nur vordergründig. In Wahrheit geht es fast immer um das bessere Leben. Auch dann, wenn das dem Hilfesuchenden nicht bewusst sein mag. Das bessere Leben wäre wahrscheinlich einfach ein Leben mit weniger Angst und Schmerzen sowie mit mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit, kurz, mit mehr Liebe. Der Wunsch nach Sterbehilfe sagt als solcher nichts über die Not, die ihn ausgelöst hat. Um dem Wunsch nach Sterbehilfe zu entsprechen, müsste der andere, der sich zur «Hilfe» entschliesst, von der absoluten Objektivität des Sterbehilfewunsches überzeugt sein können. Das kann er aber nicht, weil auch er nur Teil des Geschehens ist. Darauf weist der Arzt und Therapeut Christian Spaemann hin. Selbst wenn der Todeswunsch eine Art transzendentaler Wahrheit für sich beanspruchen könnte, stünde es keinem Menschen zu, sie festzustellen. Den Aussenstandpunkt, den er dazu brauchte, kann er nicht einnehmen, ohne aus der Beziehung auszutreten und zum Herrn über Leben und Tod zu werden. Bei der Sterbehilfe geht es nicht um besseres Leben. Sterbehilfe tötet. Sterbehilfe verfehlt das positive Kontaktangebot desjenigen, der sie vermeintlich braucht. Das Böse ist hier, wie so oft, ein Fehlen des Guten.

3. Die entscheidende Tötungsgewalt kommt bei der Sterbehilfe vom Helfer

Den willigen Sterbehelfer beeindruckt es in der Regel nicht, dass Sterbehilfe tötet. Er sagt: «Wenn der Selbstmord erlaubt ist, kann die Beihilfe zum Selbstmord nicht verboten sein.» Mit dieser Begründung ist sie in vielen Ländern wirklich nicht verboten. Der Philosoph Robert Spaemann aber sagt: «Man folgert aus der gesetzlichen Erlaubtheit des Suizid, dass auch die Beihilfe zu einer erlaubten Handlung erlaubt sein müsse. Nun ist aber der Suizid und der Suizidversuch nicht ‹erlaubt›, sondern nur nicht verboten, weil er nämlich überhaupt nicht in die Rechtssphäre gehört. Der Selbstmörder tritt einfach aus aus der Gemeinschaft der Menschen. Zur Beihilfe aber gehören zwei Personen. Sie ist ein zwischenmenschliches Geschehen, fällt deshalb in die Rechtssphäre und muss, solange jemand dieser Sphäre angehört, verboten und strafbar sein.» Selbstmörder mögen vielfältige Gründe für ihren Selbstmord angeben. Aus medizinischer Sicht sind Selbstmörder zu 90 Prozent depressiv. Depression ist eine durchaus heilbare Krankheit. Deshalb ist es nicht wahr, dass der Helfer dem Selbstmörder den Weg freimacht. Es ist nicht wahr, dass er ihm die äusserste Freiheit gewährt. Das alles nimmt er ihm. Der Helfer schneidet dem potentiellen Selbstmörder den Weg ab. Statt dem Lebensmüden bei der Selbsttötung zu helfen, bringt ihn sein Helfer in Wahrheit um, indem er «nur» den fehlenden, aber entscheidenden Rest an Gewalt dazugibt.

4. Sterbehilfe ist Euthanasie an Selbstmordkandidaten, die nicht die Kraft zum Selbstmord haben

Wer ist eigentlich ein Selbstmörder? Das einzige Kriterium, das wir haben, ist der vollzogene Suizid: das aus eigener Kraft beendete Leben. Nur wenn die Kraft, sich wirklich zu töten, genauso gross ist wie der Wunsch, sich zu töten – erst dann kann der Wunsch zu sterben grösser sein als der Wille, weiterzuleben. Nur mit einem langen, harten, inneren Training wird der widerstrebende Lebenswille so weit in die Knie gezwungen, dass der Selbstmord nicht nur gewollt und geplant, sondern schliesslich auch vollzogen werden kann. Der Selbstmord war bislang ein «aristokratisches» Phänomen, eine Sache jener unhappy few, die überhaupt die ungeheure Tötungsenergie aufbrachten. Noch einmal: Ob der Selbstmörder diese Energie aufbringt oder nicht, das allein entscheidet darüber, ob er ein Selbstmörder ist – oder eben nicht. Der Sterbehelfer, Prüfung hin oder her, sagt dem potentiellen Suizidenten voreilig auf den Kopf zu: «Ja, das ist dein Schicksal», und nimmt ihm so die Möglichkeit, seinen vielleicht nur vorübergehend verschütteten Lebenswillen wiederzuentdecken. Der Todeswunsch ist nicht der Tod. Der Todeswunsch mag so glühend sein, wie er will. Der Tod kommt erst aus dem Beziehungsgeschehen Sterbehilfe. Denn in der Sterbehilfe kommen zwei verschiedene Dinge zusammen, die nur scheinbar zusammengehören: Gefühlte Lebensmüdigkeit auf der einen Seite und praktische Neigung zur Suizidbeihilfe auf der anderen. Wer würde jemals einem eigenen Angehörigen auf diese Weise «helfen»? In der Regel macht der fremde Helfer den entscheidenden Schritt und erklärt den Todeswunsch zur todeswürdigen Lebensschwäche. Er hilft, ein aus seiner Sicht lebensunwürdiges Leben zu beenden. Er «spendet» die Euthanasie. Seine Eugenik dient der ins Dämonische kippenden Selbstbestimmung. Auch im frühen 20. Jahrhundert arbeitete die Euthanasie zunächst nur mit dem (angeblichen) Todeswunsch unheilbar Kranker.

5. Sterbehilfe ist Selbstmord «für alle»

Für den Philosophen Karl Jaspers war der Selbstmord noch ein Privileg nationalsozialistischer Parteifunktionäre. Er war mit einer jüdischen Frau verheiratet und wollte sich mit ihr im Notfall spontan das Leben nehmen können. Deshalb beneidete er seine Feinde um die Zyankali-Kapsel, mit der sich Himmler am Ende des Krieges der Verhaftung entzog. An Hannah Arendt schrieb er: «Das ‹anständige Mittel› zum Selbstmord war seit der Nazi-Zeit unser Problem und ist es jetzt noch. Es ist in einem technischen Zeitalter verdriesslich, dass das nicht einfach zur Verfügung steht.» Wenn das Mittel zum Selbstmord «einfach zur Verfügung steht», wird aber die Erleichterung einiger weniger mit der wachsenden Verwahrlosung aller erkauft. Das hätte Jaspers bedenken müssen. Besonders im technischen Zeitalter empfindet das selbstbestimmte Individuum Krankheit und Tod als narzisstische Kränkung. Mehr als den Tod fürchtet es die Schattenseiten des Lebens. Es geht nicht einmal darum, ob man sich die teuren Segnungen der Medizin noch leisten kann: Ein reiches Ehepaar lässt sich in der Schweiz umbringen, ohne ernsthaft krank zu sein. Zuvor lädt es die Angehörigen zu einem nachhaltig verstörenden Abschiedstreffen ein, dann fliegt es erster Klasse nach Zürich und nächtigt in einem standesgemässen Hotel. Am nächsten Tag ist es soweit. Sterbehilfe ist nicht auf jene beschränkt, denen zum besseren Leben das Geld fehlen würde. Zu Klassen- und Vermögensunterschieden verhält sie sich weithin neutral. Das macht sie sozialpolitisch so attraktiv: Der Staat, der sich der Realisierung einer Gerechtigkeit verschrieben hat, die es nur im Himmel geben kann, hätte eine Sorge weniger, wenn ihm der «Selbstmord für alle» die Einführung einer «ungerechten » Zweiklassenmedizin ersparen würde.

6. Sterbehilfe ist «gerecht», aber um den Preis des Lebens

Voraussichtlich sind im Jahre 2060 rund 30 Prozent aller Deutschen mindestens 65 Jahre alt. Bis 2050 soll sich die Gesamtzahl der gegenwärtig 2,4 Millionen Pflegebedürftigen auf 4,7 Millionen erhöhen. Es droht eine Finanzierungslücke von zwei Billionen Euro. Hier bekommt die Rede von «Gerechtigkeit» einen ganz neuen Sinn: Wenn bei Geburt alle gleich alt sind, warum sollten sie es dann nicht auch zum Zeitpunkt ihres Todes sein? So liess der schwedische Schriftsteller Carl-Henning Wijkmark den Teilnehmer einer fiktiven Konferenz über den modernen Tod fragen, die schon im Jahre 1978 jene Sterbehilfe-Politik verhandelte, die in Holland bereits vor zehn Jahren Wirklichkeit geworden ist und das «sozialverträgliche Frühableben» (Karsten Vilmar) zur Gewohnheit werden lässt: «Die Idee eines Todesobligatoriums in einem gewissen Alter verwirklicht auf ihre Art eine Demokratie des Todes, die sicher einer der ältesten Träume der Menschheit ist.» Ein solches Todesobligatorium «legt enorme wirtschaftliche Ressourcen frei, wahrt aber gleichzeitig eine Art makabrer Gerechtigkeit» (Wijkmark). Wir haben noch etwas Zeit, uns daran zu gewöhnen.

7. Sterbehilfe ist die letzte Konsequenz aus Abtreibung und Zeugungsverweigerung

Unser Körper gehört uns nicht. Zumal für den Christen ist der Körper ein Tempel Gottes, den der Mensch nur verwaltet. Über das ihm von Gott anvertraute Leben darf er nicht verfügen. Sterbehilfe ist Todsünde. Sterbehilfe ist Anmassung. Der Geist dieser Anmassung ist unter anderem der jahrzehntelangen, exzessiven und gewohnheitsmässigen Abtreibungspraxis zu verdanken. In einer nicht lebensbedrohlichen Situation darf die Mutter heute über das Leben ihres Kindes entscheiden. Warum sollte nicht umgekehrt auch ein inzwischen erwachsenes Kind über das Leben seiner Eltern entscheiden dürfen – und sei es nur, weil es durch Sterbehilfe endlich den heiss ersehnten Erbfall herbeiführen möchte? Auf dem Jugendportal des Deutschen Bundestages (www.mitmischen.de) gibt es zum Thema Sterbehilfe einen scheinbar neutralen Text, der unter anderem vom «Recht auf einen würdigen Tod» handelt. Er wird mit dem Foto einer jungen Frau illustriert, die auf einer Autobahnbrücke steht. Ging es nicht eben noch um Todkranke? Ging es nicht eben noch um Suizidprävention? Sterbehilfe ist Abtreibung im tausendsten Monat oder im achthundertundvierzigsten oder im vierhundertundachtzigsten. Also mit 83 oder mit 70 oder mit 40 oder auch mit 16 Jahren wie in den Niederlanden. Nachdem Pille, Abtreibung und zeugungsloser sexueller Hedonismus zu Mindergeburten in mittlerer zweistelliger Millionenhöhe geführt haben, wird die Überalterung unbezahlbar. In dieser Situation behauptet das Programm Sterbehilfe eine Art Gleichberechtigung von Leben und Tod, um den Tod als das bessere Leben zu verkaufen. Aus anderer Perspektive tut das auch die Lobby für die Homo-Ehe, die neuerdings von der Verantwortung homosexueller Paare «für die geborene als auch ungeborene Zukunft» spricht. Wer Sterbehilfe leistet, übernimmt demnach Verantwortung für eine ungelebte Zukunft. Wie verrückt müssen wir werden, um das gut und richtig zu finden?

8. Wo Sterbehilfe erlaubt ist, sinkt die Hemmschwelle ihrer Anwendung

Eine Frau, die von Roger Kuschs Verein Sterbehilfe empfangen hat, begründete ihren Suizid mit Lungenerkrankung und Übergewicht. Nach diesem Vorbild könnte man einem Grossteil der deutschen Krankenhauspatienten Sterbehilfe empfehlen. Bislang wurde Suizidhilfe von deutschen und Schweizer Sterbehilfsorganisationen auch in Fällen schwerer Depression befürwortet. Inzwischen fordert die Schweizer Organisation Exit auch Sterbehilfe für Gesunde. Pflegeabhängigkeit oder ein fehlendes soziales Netz sollen Grund genug sein, um einem beim Selbstmord helfen zu dürfen. Im US-Bundesstaat Oregon werden schon heute mehr soziale als medizinische Gründe angeführt. In Holland können die Eltern mindestens 16-jähriger Kinder diese im Ernstfall nicht vor der Inanspruchnahme von Sterbehilfe bewahren. Sie haben nicht das Recht, das Leben ihrer eigenen Kinder zu retten. Hören wir noch einmal Carl-Henning Wijkmark: «… die Stimme der Gemeinschaft, wenn wir dafür sorgen, sie zu verstärken, wird so viel mächtiger als die des eigenen Lebenswillens, dass man, vielleicht gerade als einen letzten Akt der Selbständigkeit, darum bitten wird, aufhören zu dürfen.» Kaum ist das Wort «Sterbehilfe» in der Welt, bleibt es nicht mehr auf den äussersten Notfall beschränkt. Es macht sich breit, als ob ohne Hilfe kein Sterben mehr wäre. Allein das Angebot wird zu einer diskreten Ermahnung, sich jederzeit zu überlegen, ob man nicht bald gehen sollte. So wird das ganze Leben vergiftet. An seine Stelle setzt sich eine «Kultur des Todes». Der neue Faschismus sagt aber nicht: «Ich bin der neue Faschismus.» Er sagt: «Ich bin die Selbstbestimmung.»

9. Sterbehilfe ist ein Vorschein der Katastrophe von morgen

Sterbehilfe kann nur dort blühen, wo die Familie zerstört und die Nation «überwunden », wo Mensch und Menschheit neu erfunden werden sollen. Die demografische Krise, als deren grausamste Notlösung sich die Sterbehilfe empfiehlt, verschlimmert sich aktuell auf dreierlei Weise: mit steigendem Erwerbsdruck für Frauen, mit anhaltend hohen Abtreibungszahlen sowie mit familienschädlichen Gesetzen und Neuerungen wie der «Homo-Ehe». Mütter, die sich persönlich und ganztägig um ihre Kinder kümmern, setzen sich zynischer öffentlicher Verachtung aus. Die Pflege von Alten und Kranken in der eigenen Familie soll zum Auslaufmodell werden. Wenn die Alten in den niedergehenden westlichen Industrienationen eines Tages systematisch sterben müssen – weil niemand mehr weiss, wohin mit ihnen –, wird man die Massnahmen damit begründen, dass sie den Wert des Menschen keineswegs in Frage stellen, sondern dem Wert des anderen, nützlicheren Menschen dienen, dessen Wert sie ausserdem erhöhen. Man hospitalisiert die Patienten und kämpft gegen den Hospitalismus, indem man anfängt, die Patienten einfach umzubringen. Man sexualisiert die Emanzipationsfragen und kämpft gegen den Sexismus. Man munitioniert die Verteilungskämpfe rassistisch, nämlich durch Verzichtsforderungen an die einstigen Kolonialvölker, und unterstützend bekämpft man zugleich ihren «Rassismus». Ist die Unantastbarkeit menschlichen Lebens auch am Lebensende aus dem Weg geräumt, könnten zum Beispiel zehn arme afrikanische Kinder gegen den teuren Krankenhausaufenthalt eines alten, europäischen Patienten in die Waagschale geworfen werden. Oder irgendjemand sonst, der gerade als wichtiger oder wertvoller gilt.

10. Sterbehilfe ist eine teuflische Wette auf die Entbehrlichkeit der Welt

Sterbehilfe verspricht so viel. Es scheint, als könnte sie die dunkle Seite des Lebens abschaffen. Als würde derjenige, der sie annimmt, das Leid aus dieser Welt in jene mit hinübernehmen. Das konnte nur Christus, jetzt sollen es alle können. Sterbehilfe wird zur «Wette auf die Entbehrlichkeit der Welt» (Peter Sloterdijk). Im Gegenzug würde der Tod schrecklicher herrschen als je zuvor. Die harte Scheidung des noch lebenswerten Lebens von bereits lebensunwertem Leben würde an jeder Stockung des Lebensflusses stattfinden, an dem Krankheit oder Unglück ihr Recht fordern. Eine Selektion. Der Tod auf Bestellung wäre bar jeder erhabenen Unwägbarkeit. Für das Unwägbare müssen der Sterbende und seine Nächsten Geduld haben und sich Zeit nehmen. Dafür mag das Schicksal sie näher zusammenbringen als je zuvor. Sterben lernen heisst leben lernen. Für den natürlich Sterbenden kann der lange Abschied die letzte und wichtigste Erfahrung seines Lebens sein. Die anderen, die ihn begleiten, mögen auf traurige, aber auch schöne Weise die Erfahrung ihrer eigenen Lebendigkeit und Lebensfreude machen. Das Leid ist kein Fehler der Schöpfung. Wie die Freude gehört es zum Leben dazu. Wer das Leid vom Leben scheiden und an den Tod binden will, bindet das Leben selbst an den Tod. Das ist die schiefe Ebene der Sterbehilfe, vor der nicht genug gewarnt werden kann. Gegen sie hilft nur die Fülle des Lebens und der Versuch seines Gelingens im Glauben und in der Hoffnung, dass es etwas gibt, das weit und strahlend über die vielen trübseligen Tage hinausreicht. Die menschenwürdige Antwort auf Schmerz und Qual ist nicht der Tod, sondern Glaube, Liebe, Hoffnung – bis zuletzt und darüber hinaus.

Andreas Lombard

Quelle: Factum, 1/2014 (www.factum-magazin.ch)

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