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Martin Luthers Theologie

Über Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie

Oswald Bayer, Professor für systematische Theologie in Tübingen, ist einer der Bahn brechenden Lutherforscher, seit 1971 seine wegweisende Doktorarbeit „Promissio“ erschien. In seiner neuesten Veröffentlichung, „Martin Luthers Theologie“, ebnet er dem Zeitgenossen tiefschürfend und dicht formulierend den Weg zu einer Begegnung mit Luther, die wirklichen Glaubens- und Erkenntnisgewinn für den Leser bereit hält. Er schöpft souverän aus mehr als 40 Jahren gewissenhafter Arbeit an Luthers Lebenswerk und zeigt, welchen Gewinn der Christ heute machen kann, wenn er sich auf Luther einläßt. Weil Oswald Bayer weiß, daß niemand mit Luther je fertig wird, ist bei ihm kein Satz gekonnte Routine. Auch da nicht, wo er früher veröffentlichte Aufsätze auswertet und auf Sätze zurückgreift, die er früher formuliert hat. Sein aus einer Vorlesung für Hörer aller Fakultäten erwachsenes Buch ist theologisch präzis und zugleich verständlich geschrieben, fordert allerdings gespannte Aufmerksamkeit. Es ist zugleich – und auch das ist ein Gewinn – ein Kompendium von hervorragend ausgewählten Luther-Texten, die Bayer sorgfältig auslegt und oft in den Horizont der die Gegenwart prägenden Geistesgeschichte stellt.

Am Anfang steht eine spannende Einführung, die den Horizont aufreißt: „Im Zeitenbruch“. „Es ist der Bruch zwischen der zum Ende gekommenen alten Welt, der gefallenen Schöpfung, und der erneuerten Schöpfung, der neuen Welt, die so neu ist, daß sie nie mehr alt wird; sie ist ewig neu.“ Dieser Bruch ist am Kreuz Christi geschehen. Gott trat als Mensch in die Geschichte der Menschen: „In diesen Fleischwolf, in diese Weltgeschichte als Kampf aller gegen alle auf Leben und Tod um gegenseitige Anerkennung hat Gott sich selbst durch seinen Sohn hineinbegeben – hingegeben, entäußert bis zum Tod, zum Tod am Kreuz. Gott ist Mensch. Er ist ‚bei uns im Schlamm und in der Arbeit, daß ihm die Haut raucht’…Kraft seiner Liebe erträgt und überwindet der gekreuzigte Gott die Nacht der Sünde, des Todes und der Hölle.“ Das Kreuz zwingt zum Blick in den Abgrund des Bösen. Bayer zeigt, daß diese Sicht Luther scharf konturiert „von der Harmlosigkeit moderner Liebestheologen“ unterscheidet, die das christliche Urbekenntnis, daß Gott Liebe ist, zu einem flachen dogmatischen System ausbauen. Es beruhigt den Zeitgenossen, solange es gut geht, es vermag aber nicht zu trösten und zu tragen, wenn die Fundamente in den Lebenskrisen brechen. Bayer übersieht nie die seelsorgliche Dimension der Theologie Luthers. Gerade so öffnet er mit seiner Luther-Exegese dem angefochtenen Christen den Lebensraum des Glaubens.

Auf die hilfreich instruktive Einführung folgen zwei Teile, nämlich „Grundsätzliches“ und „Einzelthemen“. Der erste Teil hat vier Kapitel mit den Überschriften: Jeder Mensch ist Theologe: Luthers Theologieverständnis – Das Thema der Theologie: Der sündigende Mensch und der rechtfertigende Gott – Was ist „evangelisch“? Die reformatorische Wende in Luthers Theologie – Was macht die Bibel zur heiligen Schrift? Darauf folgt der zweite Teil mit zwölf Kapiteln, welche die unverzichtbaren Themen der Dogmatik und Ethik behandeln: Schöpfung: Stiftung und Bewahrung der Gemeinschaft – Die Ordnung der Welt: Kirche, Ökonomie, Staat – Der Mensch: Gottes Ebenbild – Sünde und unfreier Wille – Gottes Zorn und das Böse – „Durch den Sohn, unsern Herrn“: Gott als Barmherzigkeit und Liebe – Gottes Gegenwart: Der Heilige Geist – Die Kirche – Glaube und gute Werke – Geistliche und weltliche Herrschaft: Die zwei Regimente Gottes – Weltvollendung und Gottes Dreieinigkeit und Zusage und Gebet.

Immer wieder gelingen Oswald Bayer Formulierungen, die das Denken des Lesers anstoßen: „Luther ‚meistert’ die Schrift nicht, sondern begegnet ihr auch da mit einem Vertrauensvorschuß, wo er mit ihrem Verständnis große Schwierigkeiten hat.“ „Ein Theologe ist, wer von der Anfechtung getrieben, betend in die Heilige Schrift hineingeht und von ihr ausgelegt wird, um sie anderen Angefochtenen auszulegen, so dass sie ebenfalls – betend – in die Heilige Schrift hineingehen und von ihr ausgelegt werden.“ Die Lebenskraft der Bibel erweist sich darin, daß sie „den, der sie liebt, in sich und ihre Kräfte hinein verwandelt.“

Mit der modernen Sprachanalytik unterscheidet Bayer konstatierende, feststellende Sätze von konstituierenden, die eine Wirklichkeit schaffen, die vorher nicht bestand. Solche sind z.B. das Eheversprechen oder das Wort, mit dem der Seelsorger einem Menschen Gottes Vergebung zuspricht. Luther nennt diese kreativen Sätze Verheißungen und findet sie in beiden Teilen der Heiligen Schrift. In den Verheißungen ist Christus präsent – verbindlich und eindeutig, gewiß machend und befreiend. Die Verheißung ergreift der Glaube, und „glaubst du, so hast du.“

Bayer erhebt aus Luthers reflektierter Glaubens- und Lebenswelt eine Fülle provokanter Einsichten, die den krisengeschüttelten evangelischen Kirchen Wege zur Erneuerung zeigen können. Ich nenne unter anderen das Schriftverständnis, die kreative Dynamik von Gesetz und Evangelium oder das Verhältnis von Schöpfung und Rechtfertigung. Entscheidend für Luthers Verständnis der Bibel ist, daß die Bibel nicht als vorweg gesicherte formale Autorität dem Menschen begegnet. Aber sie hat immer den Vorrang vor den Hörern und Lesern. Sie ist die Stimme Gottes, „der gibt: der staunen, klagen und loben läßt, fordert und erfüllt“. Sie legt sich selbst aus. Die Bibel erweist sich selbst als wahr, indem sie Glauben weckt. Die Lebendigkeit der Schrift, die in Gesetz und Evangelium auf Begegnung zielt, läßt Schriftprinzipien, mit denen Theologen eindimensionale Verstehenssysteme bauen, einstürzen, wenn Gott durch das Bibelwort zu sprechen beginnt. Ihr Kardinal-Thema ist: Der sündige, verlorene Mensch und der rettende Gott. Luther hat in seiner Bibel nur die Wortfolge „SUNDE VERGJBT“ in Großbuchstaben drucken lassen. Dies nennt er den Mittelpunkt der ganzen Heiligen Schrift, und das ist bei Luther alles andere als die von Bonhoeffer so schneidend analysierte billige Gnade, die längst zur tödlichen Infektion der Volkskirche geworden ist.

Bayer zeigt, daß Luther schon die Schöpfung im Licht der Rechtfertigung sieht und sie als Sprachgeschehen versteht. Er demonstriert es mit Hilfe der Erklärung zum ersten Artikel im kleinen Katechismus, wo Luther bewußt das Wort „Verdienst“ aus dem Rechtfertigungsstreit setzt. Gott ist von Anfang an der, der den Gottlosen rechtfertigt, die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Sein ruft (Röm 4), „und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit“. Gott regiert die Welt von Anfang an mit seinem verläßlichen und liebenden Wort. Wer dem Wort antwortet und daraus lebt, der glaubt; wer sich dem Wort verschließt, dem wird die ganze Welt zu eng, den erschreckt schon ein raschelndes Blatt.

Bayers Buch packt den Leser in seiner Existenz, weil er als systematischer Theologe während der Luther-Exegese nie die Gegenwart aus dem Blick verliert. Zur Überwindung eines „weltvergessenen Personalismus“ und andererseits einer diesseitsfixierten „Weltseligkeit“ geht Oswald Bayer bei dem Alttestamentler Luther in die Schule: Luther hält zum einen mit Gottes Urzusage „Ich bin der Herr, dein Gott“ streng am Charakter der Schöpfung als Anrede fest, zugleich aber betont er die penetrant diesseitige Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung: Gott ist ‚im Darm eines Mistkäfers oder gar in der Kloake…nicht weniger als im Himmel’“ Diese Gegenwart Gottes ist nicht von Jesu Christi Kreuz zu trennen, an dem der dreieinige Gott mit der gefallenen Schöpfung solidarisch ist. Luther kennt keine natürliche Theologie, in der die Welt, wie sie ist, verklärt wird. Seine Theologie „ist von einem Lebensmut bestimmt, der die Alternative von Optimismus und Pessimismus, von Weltsucht und Weltflucht zerbricht und überwindet.“ Luthers theologische Erfahrung, im Zeitenbruch zu leben, widerspricht der Illusion beständigen weltgeschichtlichen Fortschritts, mit deren Hilfe sich nicht wenige Theologen der biblischen Erwartung des Jüngsten Tages zu entledigen versuchen. Bayer formuliert: „Aus dem gegenwärtig Neuen der Gegenwart Gottes kommt die Zukunft der Welt; die gegenwärtig in der Taufe und im Herrenmahl sich eröffnende Neuschöpfung macht die alte, pervertierte Welt zur alten vergangenen Welt und stellt die ursprüngliche Welt als Schöpfung wieder her.“

Oswald Bayer lädt in seiner sensibel verstehenden Exegese und seiner verständlich formulierten Entfaltung ein, sich auf Luthers eminent fruchtbare theologische Erfahrung einzulassen.

Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. 354 S., 2. Auflage, Tübingen 2004

Aus: Kirchliche Sammlung
Herausgeber: Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche e.V.
27. Jahrgang / Nr. 1/2005/ Februar 2005