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Intolerante Toleranz?

Grundlegendes zum Problem und zur Situation

In den westlichen Gesellschaften gilt die Toleranzforderung weitgehend als selbst­verständlich, oft wird sie aber in oberflächlicher Weise erhoben. Toleranz wird dabei erstens verwechselt mit Indifferenz, also mit Gleichgültigkeit und Mangel an eigener Überzeugung. Verantwortliches Engagement kann auf diese Weise nicht entstehen. Ein Defizit wird als Toleranz bezeichnet und zur Tugend gemacht.

Eine weitere Wurzel oberflächlicher Toleranzforderung geht auf die fortschreitende Individualisierung der Lebensverhältnisse zurück. Jeder soll tun und lassen können, was er will. Individuelle Entfaltung ist aber nur möglich auf der Grundlage eines Sets an Ge­meinsamkeiten, die nicht zur Disposition stehen. Wo jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt, ist die Gemeinschaft gestört. Der Stärkere wird sich auf Kosten des Schwächeren durchsetzen. Toleranz dieser Art führt auf Dauer zum Anarchismus. Wieder wird ein Defizit zur Tugend erklärt.

Eine dritte oberflächliche Form von Toleranzforderung begnügt sich mit dem Formalismus einer abstrakten Idee. Das Motto heißt dann: Was im Einzelnen geglaubt wird, ist nicht entscheidend, Hauptsache, daß ein Mensch sich für etwas einsetzt. Verallgemeinerungen im Sinne dieses Formalismus lauten etwa: „Wir glauben ja doch alle an denselben Gott!“ oder: „Der gute Wille ist ausschlaggebend!“ Eine Kommunikation über das, was wahr, gültig und gerecht ist, fällt aus. Auch hier wird somit ein Defizit als Tugend ausgegeben.

Der Toleranzbegriff als solcher ist im Abendland so positiv besetzt, daß selbst die drei genannten defizitären, „billigen“ Toleranzverständnisse positiv eingeschätzt werden. Man meint, oberflächliche Toleranz sei besser als keine Toleranz. Dabei wird jedoch übersehen, daß oberflächliche Toleranz der Intoleranz den Weg bereitet. Man trifft häufig auf dieses Phä­nomen. Beispielsweise werden in Gremien alle Meinungen „tolerant“ angehört, dann aber wird die Entscheidung im Sinne derer getroffen, die die Macht haben. Das tolerante Anhörungsverfahren diente mithin nur zur Verschleierung dieser Machtverhältnisse.

Ein anderes probates Mittel, Intoleranz als „Toleranz“ zu kaschieren, besteht darin, bestimmten Begriffen das Kennzeichen der „Intoleranz“ umzuhängen. Diese Begriffe werden als Schlagwörter benutzt und Vertretern mißliebiger Meinung angehängt. So geschieht es gegenwärtig mit dem Sammelbegriff Fundamentalismus. Wer eine klare Haltung einnimmt, egal welchen Inhalts, wird als „Fundamentalist“ bezeichnet und somit als intolerant abge­lehnt.

Fazit: Im Namen der Toleranz wird häufig Intoleranz ausgeübt. Dieser Prozeß ist in der Öffentlichkeit bedenklich weit fortgeschritten! Gleichgültigkeit, fehlende Verantwortung für die Gemeinschaft, mangelnde Zivilcourage bei rücksichtslosem Durchsetzen der eigenen Interessen (Ellenbogengesellschaft) sind die Kennzeichen. Denkverbote werden aufgerichtet, Wahrheiten dürfen nicht ausgesprochen werden, weil das als „intolerant“ gilt; das alles ge­schieht im Namen der „Toleranz“! Wer den Begriff hat, hat aber noch nicht die Sache. Daher kann ein defizitäres Toleranzverständnis keineswegs hingenommen oder gar als positiv bewertet werden. Es ist nötig, Toleranz in ihrer Tiefe und Fülle von ihren Wurzeln her wiederzugewinnen.

Herkunft und Wurzeln der Toleranz

Die abendländische Toleranzidee geht auf das Menschenbild des antiken Humanismus und auf das Christentum zurück. Während ursprünglich die antiken Großreiche den unterworfenen Völkern ihre Sieger-Götter aufzwangen, führte später der Einfluß der griechischen Philosophie, vor allem der Stoa, dazu, daß die abhängigen Völker mit ihren Göttern toleriert wurden (Alexander-Reich; Röm. Reich). Es handelte sich jedoch nur um eine relative Toleranz, denn es wurden die jeweiligen Völker mit ihren Göttern, nicht aber individuelle Bekenntnisse toleriert. Da die Christen nicht bloß Volksgötter verkündeten, son­dern den einen Gott und Erlöser aller Völker und Menschen, gerieten sie in Konflikt mit der synkretistischen Toleranz des Römischen Reiches, was bis zum Toleranzedikt von 313 zu periodisch auftretenden Christenverfolgungen führte.

Nachdem die Kirche Reichskirche geworden war, ging sie selbst zu einer intoleranten Religionspolitik über. Der Gedanke der Einheit von politischem Reich und Kirche war dabei leitend. Strengster Verfolgung unterlagen die Abtrünnigen vom eigenen Glauben (Inquisition seit dem 12. Jh.), während Nicht-Christen in engen Grenzen toleriert wurden (vgl. Thomas v. Aquin).

Erst die Reformation brachte den Durchbruch für die Freiheit des individuellen Bekenntnisses und Gewissens. Sie bezog sich auf das biblische Glaubensverständnis und knüpfte an Erkenntnisse an, die schon Tertullian (um 200) formuliert hatte: Da der Glaube Werk Gottes am Menschen und Geschenk des Heiligen Geistes ist, kann niemand zum Glauben gezwungen werden! Hand in Hand mit der Reformation ging der Humanismus der Renaissance, der das antike Menschenbild mit dem christlichen verschmolz. Verstärkt wurde die Tendenz zur Tolerierung des individuellen Bekenntnisses durch spiritualistische Bewegungen (Betonung des „inneren Lichts“).

Politisch setzte sich die Toleranz jedoch erst nach den Glaubenskriegen und unter dem Geist der Aufklärung durch. Neue Differenzierungen und zugleich Verallgemeinerungen trugen dazu bei: Unterschieden wurden zwischen fundamentalen, also allgemeinen, und nicht-fun­damentalen, also speziellen (konfessionellen), Glaubenswahrheiten; verallgemeinert wurde der Religionsbegriff im Sinne des Rekurses auf ein natürliches Gottesverständnis und eine angeborene Vernunftsmoral. Politische Folge war die Trennung von Kirche und Staat. Rechtlich wurde die Religions- und Meinungsfreiheit kodifiziert.

Selbst diese sehr geraffte Darstellung läßt die Wurzeln des abendländischen Tole­ranzverständnisses sichtbar werden. Diese beruhen auf spezifischen Unterscheidungen bei gleichzeitigem Festhalten an grundlegenden Gemeinsamkeiten. Zu den für ein positives, gefülltes Toleranzverständnis notwendigen Unterscheidungen gehören die Differenzierungen zwischen Gott und Mensch (= nur Gott selbst ist absolut, alles Menschliche ist relativ) und zwischen Staat und Kirche (= die politische Gemeinschaft ist keine Glaubensgemeinschaft; die Glaubensgemeinschaft darf nicht politischen Charakter annehmen; vgl. Luthers Zwei-Regimenten-Lehre und Dietrich Bonhoeffers Mandaten-Lehre).

Zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten gehören zum einen (in Umkehrung des Aufklärungsoptimismus) die biblische Sicht, daß alle Menschen in gleicher Weise Sünder vor Gott sind und keiner sich selbst rechtfertigen kann (vgl. Röm 3,23), zum anderen, daß der Heilswille Gottes allen Menschen ohne Unterschied in gleicher Weise gilt (vgl. 1.Tim 2,4).

Ganz offensichtlich setzt das gefüllte Toleranzverständnis diese fundamentalen Lehren über das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch voraus. Wo diese Einsichten verloren gehen, wird Toleranz auf Dauer gefährdet. Es entsteht die eingangs dargestellte oberflächliche Toleranz, die schließlich verfällt und in Intoleranz umschlagen kann.

Interreligiöser Vergleich

Manchmal kann man die Ansicht hören, andere Religionen seien toleranter als das Christentum. Solche Behauptungen sind schon deshalb problematisch, weil sie mit einem ungeklärten Toleranzbegriff arbeiten. Wie wir sahen, ist das moderne Toleranzverständnis auf dem Boden der christlich-abendländischen Kultur und Tradition gewachsen. Wenn man es aus seinem Zusammenhang reißt und in völlig andere Kontexte überträgt, besteht die Gefahr, daß sich denkerische Kurzschlüsse ergeben.

Der Religionswissenschaftler G. Mensching hat zwischen formaler und inhaltlicher Toleranz unterschieden. Formale Toleranz läßt nur die Position des anderen unangetastet, während inhaltliche Toleranz deren Wertschätzung ausdrückt. Obwohl auch diese Begrifflichkeit nicht ausreicht, um die Toleranzfrage zu fassen, soll sie uns hier als Hilfsmittel dienen, um einen Religionsvergleich durchzuführen.

Der Islam kennt die Duldung der „Schriftbesitzer“ (Juden und Christen). Formale Toleranz wird unter der Voraussetzung geübt, daß die „Schriftbesitzer“ sich der islamischen Oberhoheit unterstellen, „Kopfsteuer“ zahlen und dem Islam in keiner Weise schaden, was immer das heißen mag. Mission unter Moslems ist nicht erlaubt. Auf Abfall vom Islam steht die Todesstrafe.

Gegenüber den Nicht-Schriftbesitzern gilt die formale und inhaltliche Intoleranz; das heißt, die „Götzenanbeter“ sind zu bekämpfen. Im Übrigen gibt es verschiedene Rechtsschulen. Das Religionsgesetz (Scharia) regelt das Verhalten genauer. Bei fortschrittlichen Moslems kann der Kampf auch geistig interpretiert werden. Besonders problematisch ist, daß der Islam Religionsgebiet und Staatsgebiet nicht unterscheidet. Islamische Toleranz kann somit im besten Fall als „Duldung“ Andersgläubiger umschrieben werden.

Der Hinduismus gilt als besonders tolerant, da er keine Dogmatik kennt. Im Hinduismus selbst gibt es in der Tat eine große Vielfalt von Lehren und Göttern. Angehörige anderer Religionen können aufgefordert werden, den Weg ihres je eigenen Glaubens eifrig zu beschreiten. Also kennt der Hinduismus bezüglich der Lehren eine inhaltliche Toleranz. Meist wird aber verschwiegen, daß der Anhänger einer anderen Religion für den Hindu niedriger steht als die unterste Hindu-Kaste. Er ist damit per definitionem outcast.

Das hat immense religiöse Bedeutung, denn nur die Angehörigen der beiden oberen Kasten können die Erlösung erreichen. In der religiösen und sozialen Kastenordnung drückt sich also eine inhaltliche Intoleranz aus. Nur im Laufe vieler Inkarnationen hat ein Angehöriger anderer Religionen die Chance, in einer höheren Hindu-Kaste wiederverkörpert zu werden. Hindu-Toleranz kann somit im besten Fall als „Absorption“ Andersgläubiger umschrieben werden.

Vergleichbares gilt für den Buddhismus. Dieser kennt kein Kastenwesen. Umso mehr betont er, daß der Buddha-Weg der einzige Weg zur Erlösung sei. In buddhistisch geprägten Staaten wie Bhutan, Nepal, Thailand, Kambodscha ist die Religionsfreiheit eingeschränkt. Buddhistische Toleranz kann im besten Fall umschrieben werden als Haltung zwischen „Duldung“ und „Absorption“.

Die Freiheit des Evangeliums

Eine Patentlösung für Toleranz gibt es nicht. Auch ein Christ muß sich die Kraft zur Toleranz immer wieder von Gott schenken lassen. Denn das Herz des unverwandelten, „natürlichen“ Menschen neigt zur Selbstdurchsetzung und damit zur Intoleranz. Theologisch-systematisch und auch kulturgeschichtlich gilt jedoch, daß die Grundlagen der gefüllten Toleranz, wie oben dargestellt, gegeben sind durch die Unterscheidungen zwischen Gott und Mensch, Staat und Kirche; durch die Gemeinsamkeiten aller Menschen vor Gott im Blick auf die Sünde und die Berufung zum Heil.

Die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde, das heißt zwischen Person und Werk, ermöglicht es, das Zeugnis der Wahrheit, daß nämlich Jesus Christus der einzige Mittler des ewigen Lebens ist (Joh 14,6; Apg 4,12), mit der Liebe zu verbinden. Gott ist absolut, der Christ als Person und alle irdischen Verwirklichungsgestalten christlichen Glaubens hingegen sind fehlbar. Ecclesia semper reformanda (Die Kirche ist stets zu reformieren). Deshalb gibt es wohl einen Absolutheitsanspruch Jesu Christi, aber keinen Absolutheitsanspruch der Kirche und der Christen. Das endgültige Urteil über einen Menschen bleibt Gott überlassen.

Glaube, Hoffnung und Liebe bilden deshalb die Wurzel christlicher Toleranz Von diesem Ursprung her wird christliche Toleranz, wo sie echt ist, als herausfordernde Liebe Gestalt annehmen. Es ist eine Liebe, die auch vor Kreuz und Leid nicht zurückschreckt.

Die staatliche Toleranz des Rechtes und Gesetzes muß freilich von der Toleranz des Glaubens unterschieden werden. Während die Toleranz des Glaubens die Leidens­bereitschaft einschließt, ist es Aufgabe des Staates, gegen aggressive Intoleranz notfalls auch mit staatlichen Gewaltmitteln vorzugehen. Der liberale Rechtsstaat, der Gewissensfreiheit garantiert, ist eine Errungenschaft, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte, auch nicht im Zeichen „billiger“ Toleranz.

Obwohl also die staatliche Toleranz des Rechtes und Gesetzes und die Toleranz des Glaubens nicht verwechselt werden dürfen, gibt es doch auch eine Verbindung zwischen beiden. Die in Glaube, Hoffnung, Liebe und Leidensbereitschaft gründende Toleranz der Nachfolge Jesu Christi wird auf die säkulare Toleranz ausstrahlen und diese, ohne daß sie davon wissen muß, an ihren Wurzelgrund zurückbinden. Dadurch wird verhindert, daß säkulare Toleranz sich verabsolutiert und in Intoleranz umschlägt.

Jesus Christus als den einzigen Heilsweg für alle Menschen zu bezeugen, ist folglich alles andere als intolerant, vielmehr Urgrund und Quelle der Erneuerung der Toleranz.

Dr. theol. Rainer Mayer war Professor für Evangelische Theologie mit den Schwerpunkten Systematische Theologie (Sozialethik) und Religionspädagogik an der Universität Mannheim.