- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Das Volk Israel – Störenfried oder Segensträger für die Völker?

Vorbemerkung

Ich bin nur einmal in Israel gewesen und meistens um Israel herum in den arabischen Nachbarländern gereist. Zwei der arabisch-israelischen Kriege habe ich in Ägypten erlebt: den Sechstagekrieg 1967 und den Jom-Kippur-Krieg 1973. Angesichts der antiisraelischen Propaganda war es nicht leicht, eine biblische Sicht zu bewahren und dazu zu stehen. Ich wurde manchmal von Muslimen gefragt, was ich über Israel denke. Das waren kritische Situationen. Auch im Gespräch mit arabischen Christen war es nicht einfach. Die meisten vertraten eine „Enterbungstheologie“: Die Kirche ist das neue Israel, das alte Israel hat kein Existenzrecht mehr. Ich möchte deshalb das Thema ganz aus biblischer Sicht behandeln und von dorther auch die aktuellen politischen Fragen bewerten.

Einleitung

Gewiss war und ist Israel Segensträger für die Völker. Sonst könnten wir Menschen aus den Völkern nicht an Gott glauben. Wir verdanken Israel die hebräische Bibel mit ihren wunderbaren Berichten, Geboten, Gebeten und Verheißungen. Aus Israel kommt unser Herr Jesus Christus, der Heiland der Völker, und durch ihn sind wir in die göttliche Heilsgeschichte hineingenommen. Das wollen wir nie vergessen, wenn wir Kritisches zu Israel zu sagen haben.

Es ist nicht zu leugnen, dass Israel auch „Störenfried“ in der Völkerwelt war und ist. Die Frage ist nur, ob es das um Gottes willen sein musste oder um seiner selbst willen war. Dem will ich im Licht der Heiligen Schrift nachgehen.

Jakob, der Stammvater Israels, hat eine Segensverheißung für die Völkerwelt erhalten: „durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden“ (1 Mose 28,14). Die Verwirklichung dieser Verheißung konnte nicht ohne Störungen im Verhältnis zu anderen Völkern geschehen. Denn mit der Segensverheißung war die Gabe eines Landes verbunden (1 Mose 35,12) – eines Landes, das ja keineswegs leer, sondern stark bevölkert war (2 Mose 3,8). Die Erfüllung der Zusagen Gottes musste zu Konflikten führen.

Noch entscheidender aber war der Gottesbund, der Israel von den Völkern schied. Israel sollte ein Gott geweihtes Volk sein (z. B. 3 Mose 19,2), sich nicht mit anderen Völkern verschwägern (5 Mose 7,3) und nicht deren Religionen (z. B. 3 Mose 20,23) übernehmen. Diese Sonderstellung Israels als von Gott erwählt und bevorzugt (z. B. 5 Mose 26,19) war dazu angetan, einerseits Menschen neugierig nach dem Geheimnis Israels zu machen, andererseits aber auch Israel wegen seine Sonderstellung zu kritisieren und anzufeinden.

Leider hat Israel seine Sonderstellung immer wieder verraten. Es wollte „sein wie die Heiden“ (z. B. Hes 20,32) und verlor dadurch seinen Auftrag an den Völkern. Gott musste Israel strafen, aus dem geschenkten Land vertreiben und unter die umliegenden Völker zerstreuen (z. B. 5 Mose 4,27).

Ich will das Thema nun in vier Schritten entfalten.

1. Das alttestamentliche Israel

Um Gottes willen wird es zum Störenfried im zweiten Jahrtausend vor Christus.

Der Exodus aus Ägypten kann sich nicht ohne Turbulenzen vollziehen (2 Mose 3,19). Durch die Gerichte Gottes gerät im Land am Nil einiges durcheinander.

Noch schlimmer trifft es die Jordanländer. Die Bewohner sollen nicht nur besiegt, sondern vertrieben (4 Mose 33,52), ja ausgerottet (Jos 11,20) werden. Israel hat das bei der Einwanderung nicht ganz geschafft bzw. nicht gewagt (Richter 1), und das wird ihm zum Verhängnis (Jos 23,12f.). Israel passt sich dem Glauben der Kanaanäer an und verbindet den Jahweglauben oberflächlich mit den lokalen Fruchtbarkeitsriten. Dadurch verliert Israel seinen Auftrag, in seiner heidnischen Umwelt Segensträger für die Völkerwelt zu sein.

Anstatt zum Segen zu werden, buhlt Israel immer wieder um die Hilfe der Völker. Als es z. B. von den Assyrern bedroht wird, setzt es seine Hoffnung auf Hilfe aus Ägypten, anstatt Gott zu vertrauen (z. B. Jes 30,1-5 u. 31,1). Immer wieder erinnern die Propheten daran, dass Israel allein durch „Stillsein und Hoffen“ (Jes 30,15) auf Gott stark ist.

Dennoch hinterlässt das alte Israel Segensspuren unter den umliegenden Völkern.

Als im Reich Davids die überlebenden Vorbewohner mehr oder weniger integriert werden, erfahren sie vom Gottesglauben Israels und werden in den Gottesdienst an der Stiftshütte und am Tempel einbezogen. Nach dem mosaischen Gesetz müssen sich die Fremden im Gebiet Israels nach dem Gesetz richten (z. B. 3 Mose 24,16).

Ein Beispiel für die Wirkung des Glaubens Israels ist das Buch Rut. Eine Moabiterin bekennt ihrer verwitweten Schwiegermutter: „Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.“ (1,16)

Die Psalmen ermutigen Israel zum Reden von Gott unter den Völkern.

Israel soll unter den Völkern von Gottes Wundern erzählen (96,3). Dadurch werden sich die Völker um Gott sammeln (7,8), seine Herrlichkeit sehen (97,6), ihn anbeten (86,9), ihm danken (45,18) und ihn loben (117,1). Weil Gott König über die ganze Erde ist, beugt er Völker unter Israel (47,3f.). Solche Aussagen übersteigen schon damals die Wirklichkeit und können nur als Verheißungsworte verstanden werden.

Nun müssen wir auch die andere Seite sehen: Viele Völker werden an Israel zu Schanden.

Gott benutzt einerseits heidnische Völker zum Gericht an dem abtrünnigen Israel, z. B. Assyrien (Jes 10,5). Andererseits bestraft er diese Völker, weil sie sich eigenmächtig gegenüber Israel verhalten (z. B. Assyrien, Jes 10,12ff). Deshalb gilt: „Zu Spott und zuschanden sollen werden alle, die dich [Israel] hassen…“ (Jes 41,11).

Die bekannteste Begründung für die Gerichte Gottes an den Völkern finden wir in Sach 2,12:

„Denn so spricht der HERR Zebaoth… über die Völker, die euch beraubt haben: Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ Weil Gott Israel schützt, werden die Völker an Israel zu Schanden. „Siehe, ich will Jerusalem zum Taumelbecher zurichten für alle Völker ringsumher…Zur selben Zeit will ich Jerusalem machen zum Laststein für alle Völker. Alle, die ihn wegheben wollen, sollen sich daran wund reißen; denn es werden sich alle Völker auf Erden gegen Jerusalem versammeln.“ (Sach 12, 2ff)

Teilweise beziehen sich diese prophetischen Worte auf konkrete Gerichte und Rettungstaten Gottes in der Geschichte Israels. Andere weisen weit darüber hinaus in die messianische Zeit, und es ist manchmal nicht leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Nach Gottes Plan soll das erneuerte Israel der endzeitliche Friedensbringer für die Völkerwelt sein

Das wird am Anfang des Jesajabuches deutlich. Weil das gerichtete, erlöste und erneuerte Jerusalem eine „Stadt der Gerechtigkeit und eine treue Stadt heißen“ (1,26) wird, werden alle Heiden „herzulaufen“ und „viele Völker werden hingehen, und sagen: Kommt lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!“ (2,3).

Gleichzeitig wird der Knecht Gottes „das Recht [Jahwes] unter die Heiden bringen“ (Jes 42,1). Er ist das „Licht der Heiden …bis an die Enden der Erde“ (Jes 49,6). Nach Sach 9,9ff wird der endzeitliche König Israels „Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum anderen und vom Strom bis an die Enden der Erde.“

Diese Weissagungen übersteigen die Geschichte Israels und weisen auf die Heilszeit, die im Kommen des Messias Jesus begonnen hat. Als Christen können wir nicht davon absehen, dass viele Weissagungen sich im Kommen Jesu erfüllt haben. Durch den Juden Jesus wurde Israel zum Segen für die Völker. In der weltweiten Jesus-Gemeinde aus Juden und Heiden sind die Verheißungen der Propheten grundsätzlich erfüllt, auch wenn ihre letzte Erfüllung im sichtbaren Reich Gottes noch aussteht.

Kehren wir zunächst noch einmal zur Geschichte Israels zurück!

2. Das Judentum zwischen babylonischem Exil und dem Auftreten von Jesus

Trotz aller Verfehlung ist Israel Zeuge des einen Gottes in der Welt der Religionen.

Durch Deportationen und Flucht entsteht eine große Diaspora, zu der auch Nachfahren aus anderen Stämmen Israels gehören. Insofern ist der Begriff „Judentum“ nicht ganz korrekt. Auf jeden Fall wird „Israel“ zu einer in der heidnischen Völkerwelt lebenden Religionsgemeinschaft. Menschen aus dem Heidentum schließen sich Israel an. Gleichzeitig verlieren einzelne Juden den Glauben der Väter.

Das Judentum ist ein Phänomen in der Völkerwelt. Allein die Juden glauben damals an Gott, den Schöpfer allen Seins, Lenker der Geschichte und Geber einer hilfreichen Lebensordnung. Dieser Glaube kann nicht verborgen bleiben. Das Zeugnis von Gott beeindruckt solche Menschen, die sich innerlich vom Heidentum entfernen. Nicht alle werden Juden, aber das Judentum hat religiösen Einfluss auf die Völkerwelt.

So rettet Judith, eine israelitische Witwe, durch eine List ihr Volk vor den Assyrern und veranlasst dadurch einen ammonitischen Fürsten, sich dem Volk Gottes anzuschließen. Als er „sah, wie mächtig der Gott Israels geholfen hatte, verließ er die heidnischen Bräuche, glaubte an Gott und ließ sich beschneiden. Er wurde in das Volk Israel aufgenommen…“ (Judit 14,6).

Das Buch Ester berichtet von dem im Perserreich einflussreichen Juden Mordechai, der zum ersten Mann im Reich nach dem König aufsteigt (10,3). Die Folge ist: „…viele aus den Völkern im Lande wurden Juden, denn die Furcht vor den Juden war über sie gekommen“ (Ester 8,17).

Das Buch Tobias endet mit einem Lobgesang, in dem es heißt (13,3): „Ihr Israeliten, lobt den Herrn, und vor den Heiden preist ihn! Denn darum hat er euch zerstreut unter die Völker, die ihn nicht kennen, damit ihr seine Wunder verkündigt und die Heiden erkennen lasst, dass kein allmächtiger Gott ist als er allein.“

Neben dem Zeugnis Israels gibt es aber auch einen bedenklichen jüdischen Nationalismus.

Die Bücher Ester und Judit zeigen, dass Israel alttestamentlichem Denken verhaftet bleibt. Der politische Einfluss der Juden unter Mordechai erlaubte es ihnen, sich an ihren Feinden zu rächen und viele zu töten (Ester 9). Auch im Buch Judit geht es nicht ohne Mord und Krieg ab. Israel bleibt hier hinter dem zurück, was die Propheten angekündigt und angemahnt haben: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.“ (Sach 4,6)

Besonders die Makkabäer-Bücher machen die innere Tragik Israels deutlich. Ein Teil der Juden will sich an die herrschende heidnisch-griechische Kultur anpassen (1,12 ff). Gegen diesen Abfall und gegen die Entweihung des Tempels durch Antiochus IV Epiphanes richtet sich der bewaffnete Kampf der Makkabäer. Sie haben zeitweilig Erfolg, aber letztlich ist ihre ganze Geschichte eine Zeit von Mord und Verrat und bleibt ohne nachhaltige Wirkung.

Nicht nur äußerlich ist Israel immer wieder versucht, den Weg der Völker zu gehen. Es gibt auch eine innere Abkehr vom heilsgeschichtlichen Handeln Gottes und von seinen Verheißungen. Der Name des berühmten Philosophen Philo von Alexandrien (20 v. Chr. – 50 n. Chr.), eines Zeitgenossen von Jesus, steht für diese Tendenz, aus der Heilsgeschichte Israels eine abstrakte Erkenntnislehre im Sinne der griechischen Gnosis zu machen. In dieser Tradition stehen die großen und einflussreichen jüdischen Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Martin Buber, Franz Rosenzweig, Leo Baeck und Elie Wiesel haben viele Nichtjuden beeindruckt und für das Judentum eingenommen.

3. Das nachchristliche Judentum

An Jesus von Nazareth spaltet sich das Judentum erneut. Eine Minderheit glaubt ihm als dem Messias Gottes, eine Mehrheit lehnt ihn ab. Damit beginnt eine neue Phase im Verhältnis Israels zur Völkerwelt. Das den Jesus-Glauben ablehnende Israel wird zum heftigen und nachhaltigen Kritiker der christlichen Kirche mit ihrem Bekenntnis zur Gottessohnschaft von Jesus, zur Erlösung durch Kreuz und Auferstehung sowie zur Dreifaltigkeit Gottes – bis heute. Leider hat die mittelalterliche Kirche der Anfechtung durch das Judentum nicht im Glauben standgehalten, sondern seine Stimme mit Gewalt zum Schweigen gebracht.

Zunächst verfolgt Israel die jungen Christus-Gemeinden, die sich aus Juden und Nichtjuden zusammensetzen. Im 4. Jh. wendet sich das Blatt. Nachdem das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion geworden ist, werden jetzt die Juden diskriminiert und unterdrückt. Allerdings nicht überall. Außerhalb des Römischen Reiches bleibt den Juden viel Freiheit. Hier können sie weiterhin Einfluss auf die sie umgebenden Völker ausüben, sind aber auch der Versuchung zur Assimilation ausgesetzt. Und schließlich mischen sie in der Politik kräftig mit.

Großen Einfluss hat das Judentum auf der Arabischen Halbinsel. Hier gibt es nicht nur eine jüdische Diaspora, sondern vermutlich auch arabische Stämme, die zum Judentum konvertieren. Im Jemen gibt es im 6. Jahrhundert beträchtliche jüdische Siedlungen.

Ein anderes Beispiel ist das Reich der Chasaren nördlich des Schwarzen Meeres vom 7. bis 10. Jahrhundert n. Chr. Ein Teil des Adels dieses Turkvolkes nimmt den jüdischen Glauben an und dominiert das Reich im 9. Jahrhundert.

Es ist ferner unbestritten, dass das Judentum Einfluss auf die Entstehung des Islam hat. Der Koran lässt durchblicken, dass der hier angesprochene geheimnisvolle Offenbarungs-empfänger viel Kontakt zu Juden hat und möglicherweise vor der Frage stand, ob er Jude werden soll. „Und sie [d. h. die Leute der Schrift] sagen: ‚Ihr müsst Juden oder Christen sein, dann seid ihr rechtgeleitet. ‚Sag: Nein! [für uns gibt es nur] die Religion Abrahams, eines Hanîfen – er war kein Heide [w. keiner von denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen]!“ (2,135 nach Paret). Der Text zeigt, dass Juden und Christen in Arabien für ihren Glauben werben.

Vielleicht steht hinter den Anfängen des Islam sogar ein jüdisches Bemühen, die Araber gegen die christlichen Großmächte in Stellung zu bringen. Das misslingt. Im Islam setzt sich ein heidnisch-arabischer Nationalismus gegen das Judentum durch. Dieser Konflikt hat sein Echo im Koran gefunden. Der mekkanische Islam ist noch durch und durch jüdisch beeinflusst. Auch die Anfänge Muhammads in Madina sind noch von einer Allianz mit dem Judentum geprägt. Der Bruch kommt, als die Juden Muhammad zurückweisen. Muhammad wendet sich deshalb wieder dem mekkanischen Heidentum zu und integrierte es in seine Religion. Der Islam bekommt jetzt einen durch und durch arabisch-nationalistischen Charakter.

Die Ablehnung durch die Juden muss Muhammad tief verletzt haben. Die daraus resultierende Feindschaft gegen die Juden ist im Koran festgeschrieben. Juden werden im islamischen Reich ebenso Bürger minderen Rechts wie unter christlicher Herrschaft. Zeiten der Verfolgung wechseln mit Zeiten relativer Toleranz ab.

Anders entwickelt sich das Judentum in der westlichen Welt.

Seit der europäischen Aufklärung versuchen Juden, die Ghettos zu verlassen und sich an die europäischen Gesellschaften anzupassen. Teilweise geben sie den Glauben der Väter auf, um als vollwertige Bürger anerkannt zu werden. Juden spielen nun eine bedeutende Rolle in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Auch der Zionismus ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Er ist vom europäischen Nationalismus geprägt worden, um für das Judentum einen Nationalstaat zu schaffen und durch ihn ein für alle Mal der Unterdrückung zu entgehen.

So verständlich diese Anliegen sind – sie haben unter den Völkern viel Eifersucht, Widerstand und Aggression geweckt. Es kommt zum extremen Antisemitismus und zu den arabisch-israelischen Kriegen. Beides ist miteinander verschränkt. Ohne die Shoa im Dritten Reich gäbe es den Staat Israel vermutlich nicht.

Es ist aber festzuhalten, dass es inmitten dieser tragischen Prozesse immer einzelne fromme Juden gibt, die in ihrem Vertrauen auf den Gott der Väter nicht irre werden und so Zeugen Gottes bleiben, auch wenn sie Christus nicht erkennen. Das Judentum behält seine Anziehungskraft. Auch in Deutschland treten jedes Jahr Menschen zum Judentum über.

Was ist nun zum Staat Israel zu sagen – dem Störenfried in der Welt des Islam?

Das moderne Israel ist ein weltlicher Staat – aber aus der Sicht des Glaubens ist er ein Ergebnis des göttlichen Weltregiments in Gericht und Gnade. Er ist ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem ersten Bundesvolk, denn „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ Röm 11,29). Gottes Treue ist aber kein Blankoscheck, sondern ein Ruf an Israel, zum Vertrauen in Gott zurückzukehren.

Für die arabischen Nachbarn Israels ist die Existenz des jüdischen Staates eine Katastrophe. Unzählige menschliche Schicksale sind damit verbunden. Sie offenbart aber auch die Unfähigkeit, gegen Israel etwas auszurichten, und nährt deshalb einen tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex. Das Versagen der Araber im Sechstagekrieg führt zum großen Aufbruch des Islamismus in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Er hält Israel und die Welt seitdem in Atem. Der Islamismus hat die Welt des Islam tief gespalten. Aber es kommt noch schlimmer. Wir erleben in diesen Tagen in Syrien, dass sunnitische gegen schiitische Islamisten kämpfen. Um Israel herum tobt ein Orkan. In diesem Chaos konnte Israel bisher überleben.

Geschieht hier nicht auch ein Gericht Gottes an den Völkern des Nahen Ostens? Ich sehe in diesem Gericht aber auch einen Ruf zur Umkehr. Die gegenwärtige Notzeit unter arabischen Muslimen und Christen kann durch Gottes Gnade eine Zeit der Erweckung zum Jesus-Glauben werden.

Ich fasse das bisher Gesagte zusammen: Alle Merkmale der Geschichte Israels finden wir auch in der wechselhaften Geschichte des Judentums: Es gibt das stille Zeugnis von Gott durch fromme Juden. Es gibt die Tendenz zur Anpassung und zur Preisgabe des alten Glaubens, und es gibt die Versuchung zu Macht und Einfluss in der Gesellschaft.

4. Das endzeitliche Israel als Segensträger für die Völker im messianischen Reich

Zum Schluss muss ich noch einmal auf die alttestamentlichen Verheißungen zurückkommen. Selbstverständlich haben sie weiterhin ihre Gültigkeit, aber als Christ kann ich sie nur im Licht von Jesus, dem Messias Israels, und im Licht des apostolischen Zeugnisses lesen. Gewiss können wir das Evangelium von Jesus nur von der hebräischen Bibel her verstehen; aber gleichzeitig gilt, dass das Evangelium ein ganz neues Licht auf das Alte Testament wirft. Jesus ist der Schlüssel zum Verstehen des ersten Heilsbundes. In Jesus kommt das Alte Testament zu seinem Ziel und zu seiner Erfüllung. So verstehe ich Röm 10,4: „Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ Das gilt für Juden und Nichtjuden.

Der gesamte Hebräerbrief macht das deutlich: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn…“ (1,1f).

Eine zweite Bemerkung scheint mir wichtig. Im Alten Testament sind drei Verheißungsstränge unlösbar miteinander verbunden: die geistliche Erneuerung Israels, das Kommen des endzeitlichen Herrschers und Retters sowie die Rückkehr ins verheißene Land. Gewiss ist einmal mehr das eine oder das andere betont, aber letztlich lassen sich diese Stränge nicht trennen. Es ist problematisch, die Landverheißungen einseitig herauszulösen, als ob sie im Staat Israel schon erfüllt wären. So sehr die Sammlung Israels im säkularen Staat ein Zeichen der Treue Gottes ist – die letzte Erfüllung wird erst im Reich Christi geschehen, nachdem Israel sich zu seinem Messias bekehrt hat.

Wie sind die Verheißungen im Licht der Verkündigung Jesu Christi zu lesen?

Die Verkündigung Jesu ist Ruf zur Umkehr an Israel. So hart seine Kritik an Israel und seinen Führern erscheint, es geht Jesus um die endzeitliche Erneuerung Israels. Das gereinigte Israel soll das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt „zum Zeugnis für alle Völker“ verkündigen (Mt 24,14). Nach seiner Auferweckung sendet Jesus seine Jünger als Repräsentanten des gläubigen Israel zu allen Völkern, damit diese ins Reich Gottes kommen (Mt 28,18-20). Hier wird Israel, sofern es Jesus folgt, zum Segen für die ganze Völkerwelt.

Auch das von den Propheten verheißene Kommen der Heiden zum Heil Israels geschieht zeichenhaft während des Lebens Jesu. Ein römischer Hauptmann (Mt 8,5ff) und eine Phönizierin (Mt 15,21ff) vertrauen Jesus. Jesus verheißt für die Zukunft: „Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“(Mt 8,11).

Eine Sammlung der jüdischen Diaspora im Heiligen Land ist dagegen bei Jesus kein Thema. Vielmehr werden in seinem Reich „die Sanftmütigen“ „das Erdreich besitzen“ (Mt 5,5). Diese umfassende Verheißung Jesu lässt die Verheißungen der Propheten von der Rückkehr in das Land am Jordan in einem neuen Licht erscheinen. Auf jeden Fall können wir festhalten, dass auch bei Jesus das Kommen des Messias, die Bekehrung Israels, die Bekehrung der Völker und die erneuerte Erde thematisch eine Einheit bilden.

Wie sind die prophetischen Verheißungen im Licht der apostolischen Verkündigung zu sehen?

Die Apostelgeschichte, die apostolischen Briefe und die Offenbarung des Johannes enthalten zahlreiche Gerichtsworte über das ungläubige Israel, weil es Jesus ablehnt und die christliche Mission unter den Völkern behindert. Aber auch bei den Aposteln sind diese harten Worte letztlich ein Ruf zur Umkehr. Paulus spricht sogar eine Verheißung für die Bekehrung ganz Israels aus: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden…“ (Röm 11,25-26). Paulus deutet hier einen heilsgeschichtlichen „Zeitplan“ an. Vor der Bekehrung Rest-Israels kommt die Völkermission zu ihrem Ziel. An eine Sammlung des erneuerten Israel im Land der Vorfahren denkt auch Paulus nicht. Wichtiger ist für ihn die Rettung Israels aus seiner Verlorenheit.

Ich verstehe Paulus so, dass er an eine Bekehrung Rest-Israels vor der Wiederkunft von Jesus denkt. Denn die Apostelgeschichte macht deutlich, dass es bei den Aposteln in Jerusalem großen Widerstand gegen die Völkermission gab. Offensichtlich erwarteten sie eine rasche Bekehrung ganz Israels, dann die Wiederkunft Jesu und dann die Völkermission durch das erneuerte Israel. Deshalb blieben die Apostel zunächst in Jerusalem, anstatt in alle Welt zu ziehen. Gott hat durch seinen Geist eine andere Reihenfolge bewirkt. Weil Israel sich zum größeren Teil gegen das Evangelium verhärtete, begann die Völkermission. Seitdem läuft das Evangelium rund um die Welt und hat die letzten Völker erreicht. Wird die „Fülle der Heiden“ bald erreicht sein? Steht also die Bekehrung Rest-Israels bevor? Manches deutet darauf hin.

Wir spüren beim Lesen von Röm 9-11, wie sehr Paulus von der Umkehrung der Reihenfolge in der Mission bewegt war. Zuerst Israel, dann die Völker und schließlich Rest-Israel! Gegenüber den Gläubigen aus den Völkern betont er die unwandelbare Treue Gottes zu seinem ersten Bundesvolk (11,1f; vgl. auch 3,3f.), damit sich die Christen aus den Völkern nicht gegen Israel rühmen (11,17ff.). Die teilweise Verstockung Israels ist für ihn die Chance der Völker zum Glauben, und deren Glauben wiederum kann Israel zum Glauben anspornen (11,11ff.). Ich schließe daraus, dass es Paulus um die Rettung von allen, Juden und Heiden, zum Heil in Jesus geht. Ich bin deshalb überzeugt, dass Paulus keinem Aufschub der Verkündigung unter Juden das Wort reden will. Auch die Juden sollen das Evangelium jetzt hören, denn es geht um ihre Rettung.

Deshalb geht es sowohl Jesus als auch den Aposteln um die Einheit des Leibes Christi aus geretteten Juden und Heiden (z. B. Eph 2,11ff). Zusammen sind sie „das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums“ (1 Petr 2,9), also das neue Gottesvolk. Auch die 144.000 Versiegelten aus den zwölf Stämmen Israels in Offb 7,4-8 sind m. E. als Gleichnis für die Gesamtgemeinde Christi zu verstehen. In Offb 20 und 21 ist im Blick auf das Tausendjährige Reich, die neue Erde und das neue Jerusalem nicht von einer Sonderexistenz Israels die Rede.

Zusammenfassung

Für uns als Christen aus den Völkern ist die Geschichte Israels eine Geschichte der Treue Gottes zu seinem Bundesvolk. Von dieser Treue leben wir als Kirche Christi, die ihrem Herrn auch vielfach ungehorsam war und ist. Uns ermutigt der Ausblick, dass der Rest-Israel nach seiner Bekehrung innerhalb der Gesamtkirche ein Segen für die Völker sein wird. Dann ist das erlöste Israel nicht mehr Störenfried, sondern Friedensstifter.

Das ist schon bisher immer geschehen, wo an Jesus gläubige Juden das Evangelium verkündigt haben. Das geschah intensiv seit dem 19. Jahrhundert, und das geschieht in besonderer Weise in unseren Tagen. Die Zahl der an Jesus glaubenden Juden nimmt weltweit zu. Im Heiligen Land haben messianische Juden, Gläubige aus den traditionellen Kirchen und bekehrte Muslime geistliche Gemeinschaft miteinander. Wir sind in diesen Tagen Zeugen eines aufregenden, endzeitlichen Vorgangs!

Pfr. Eberhard Troeger

Dieser Vortrag wurde auf den Kongressen des Gemeindehilfsbundes „Gottes Weg mit Israel“ in Bad Gandersheim (4.4.-6.4.2014) und in Bad Teinach-Zavelstein (11.4.-13.4.2014) gehalten. Die gleichnamige Dokumentation mit allen Beiträgen der Kongresse kann in der Geschäftsstelle des Gemeindehilfsbundes für 5,00 € zzgl. Versand vorbestellt werden.