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Ein Schwert namens Ukraine, das uns durch die Seele dringt.

Mittwoch 26. März 2014 von Erzbischof Janis Vanags


Erzbischof Janis Vanags

Ist es nicht so, dass wir noch vor kurzem über die Ukraine nicht allzu viel nachgedacht haben? Und nun ist sie zu einer Art Zeichen geworden, dem widersprochen werden muss. Ich kann mich an kein anderes Thema erinnern, mit dem sich so viele Tausende von Kommentaren im Internet beschäftigt haben. Wenn man das liest, dann wird es schnell deutlich, dass bei den meisten von ihnen überhaupt nicht die Ukraine das Thema ist, sondern unsere eigenen Entscheidungen, Kreuzwege, Sehnsüchte und Ängste. Die Ukraine ist wie ein Schwert, das durch die Seele dringt, um das Empfinden vieler Herzen zu offenbaren. Die Spitze des Schwertes wurde bei den „grünen Buben“ (so bezeichnen die Ukrainer die Soldaten in grünen Uniformen „unbekannter“ Herkunft ohne irgendein Kennzeichen) deutlich erkennbar. Der russische Präsident Putin sagte recht unverblümt, dass es Einheiten des Selbstschutzes der friedlichen Einwohner der Ukraine gewesen seien. Ihr Auftreten in der Ukraine führte in der ganzen Welt zu einem Ausbruch von Emotionen.

Hier in Lettland begrüßte die Gesellschaft „Russisches Morgenrot“ und deren führender Ideologe Ilarion Girsa in einer Spalte im Internet den russischen Einmarsch in die Ukraine als russischen Frühling. Die veröffentlichten Fotos sagen mehr aus als Worte: endlich ist der edle russische Bär  erwacht und hat den Schlaf abgeschüttelt, aber die bellenden Hunde fliehen mit eingezogenem Schwanz. Wichtiger als die europäische Freiheit erweist sich das nationalistische Gefühl einer Zugehörigkeit zur Waffengewalt des Imperiums. Über ihre Sehnsüchte gibt es keinen Zweifel. Die Nutzung der Waffengewalt der Streitkräfte zur Verteidigung der russischen Interessen auch außerhalb der gegenwärtigen Grenzen Russlands wird als das Handeln, das einer edlen Großmacht würdig ist, gefeiert. Was hat einen Teil der Russen in Lettland 20 Jahre seit unserer Unabhängigkeit und 10 Jahre nach unserem Eintritt in die Europäische Union in solche Sehnsüchte getrieben? Ist es nur die tief verwurzelte Überzeugung von der ethnischen russischen Überlegenheit, die es nicht zulässt, dass sie sich vernünftig ausdrücken? Oder sollte es das sein, dass die Letten als Staatsnation (um einen Ausdruck von E. Levits zu gebrauchen) die Verantwortung für den Staat und für alle, die in ihm leben, übernommen hätten?

Demgegenüber verurteilen viele Letten gemeinsam mit der ganzen westlichen Welt Russland als brutalen Aggressor, der unter der Nichtbeachtung aller internationalen Gepflogenheiten einen Teil des Gebietes der Ukraine besetzt hat. Die Vertreibung des Präsidenten Janukovič betrachten sie als einen Ausdruck des gerechten Willens des Volkes und stellen sich deshalb auf die Seite der neuen Machthaber. Russland betont zwar, dass das alles nicht verfassungsgemäß abgelaufen sei, dass jedoch auch Lettland seine Freiheit erhalten hätte auf einem Wege, der der Verfassung der Sowjetunion widerspricht. Es sei doch der Ausdruck des Willens des Volkes gewesen, der nach Ansicht der führenden Persönlichkeiten des Westens dem Vorgang Gesetzeskraft gibt. Das beträfe auch heute die Ukraine mit ihrer neuen vorläufigen Regierung und den Präsidenten.

Dennoch hört man neben den offiziellen russischen Erklärungen auch andere Worte, die vermuten lassen, dass eine wesentliche Triebkraft der Ereignisse in der Ukraine die Erkenntnis gewesen sei, dass Russland ohne die Ukraine keine Großmacht sein könne und dass es gut wäre, wenn es gelänge, die Ukraine in die Europäische Union einzugliedern und damit die russischen Träume von einer möglichen Eurasischen Union als bedeutendes Gegengewicht zu den USA und Westeuropa zu zersetzen.

Genau das geht aus den offiziellen Erklärungen über den Einsatz der Streitkräfte zum Schutz der russisch sprechenden Einwohner mit den Worten von „unserer Ukraine“ hervor, ohne die der heilige Gral Russlands – die Welt der Russen – nicht erreicht werden könne. Die Petersburger Soziologin Maria Sņegovaja schreibt, dass die Ansicht falsch sei, dass es im Kreml keine Ideen gäbe und dass das Regime der postsowjetischen Zeit nur aus einer Elite bestände, die den Reichtum an sich risse. Der Angriff auf die Ukraine weise darauf hin, dass die Motivation Wladimir Putins sich viel weiter entwickelt hätte, und dass das erst der Anfang der neuen Weltpolitik Russlands sei. Putin würde viele Bücher lesen, aber ganz andere als diejenigen, aus der die westlichen Ideologen ihre Erkenntnisse herleiten. Die von ihm bevorzugte Literatur seien die Werke der Philosophen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Wladimir Solowjew und Nikolai Berdjajew, die er fast allen Gouverneuren und Parteifreunden seiner Partei „Vereintes Russland“ geschenkt habe.

Auch viele lettische lutherische Pfarrer haben diese im orthodoxen Christentum verwurzelten Autoren mit Gewinn gelesen. Aber es ist dort neben den geistlichen Inhalten auch von der Weltpolitik die Rede, von der Unvereinbarkeit der Wertvorstellungen Europas und Russlands und von der besonderen Bedeutung der Verbreitung der Orthodoxie und deren Entfaltung in den besetzten Ländern. Als sich ukrainische Orthodoxe an das Moskauer Patriarchat mit der Bitte wandten, es möchte seinen Einfluss nutzen und die Ukrainer bitten, gegen den Einzug russischer Streitkräfte keinen Widerstand zu leisten, empfahl der orthodoxe Pressedienst den Ukrainern, sich nicht gegen die „russischen Friedensbewahrer“ zu wehren, und erklärte das damit, dass „das russische Volk eine gespaltene Nation auf ihrem historischen Territorium sei, die das Recht hätte, sich zu einem gemeinsamen Staatskörper wieder zu vereinigen.“

Snegovaja berichtet weiter, dass es noch ein im Kreml viel gelesenes Buch gäbe – „Das Dritte Imperium“ von Mihail Jurjew, ein 2006 erschienener Roman. Seine Entstehung begann mit der zweiten Wiederkehr Putins zur Macht, der allmählich die uralten russischen Gebiete wie Weißrussland, Abhasien, Kasachstan, Turkmenistan und andere wieder zu vereinigen versucht, aber alles habe mit einem Knall in der Ukraine begonnen. Dessen Volk erhebe sich gegen die Herrschaft des Westens und spreche den Wunsch aus, sich Russland anzuschließen, das dann 80000 Soldaten in den Osten der Ukraine einmarschieren ließ. Ist das Huntingtons Zivilisations-Crash, die vielleicht gerade eben begonnen hat? Angesichts der lettischen historischen Erfahrungen können solche Versuche des Aufbaus eines russisch-orthodoxen Imperiums schon Angst machen. Doch überrascht können wir feststellen, dass das nicht unbedingt so sein muss. Denken wir doch an Imants Kalniņš zurück, der sich zur Zeit der Sowjets nicht gefürchtet hat, vom „Zweiten Imperium“ Russlands zu sprechen. Doch jetzt spricht man von der Zukunft in Verbindung mit einem „Dritten Imperium“. Dabei spricht man nicht viel von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit – wir alle freuen uns ja über das russische Gas und das russische Geld.

In jüngster Zeit habe ich beobachtet, dass viele Letten von ähnlichen Gedanken bewegt werden. Viele haben den Eindruck, dass sich die westliche Zivilisation in eine Richtung bewegt, bei der das Normale verurteilt und sogar strafbar wird. Die Weigerung der Eurokraten und europäischen Regierungen, die Mehrheit des eigenen Volkes zur Kenntnis zu nehmen wie zum Beispiel die Proteste der Massen in Frankreich gegen den Abbau der Ehe, hat zu einer wütenden Hoffnungslosigkeit und zum Empfinden der Schwächung der Demokratie geführt. Mit heimlicher Gewalt werden die neuen Ideen der Geschlechtlichkeit aufgenötigt. So hat das oberste Gericht Italiens einen 60 Jahre alten Pädophilen freigesprochen und diesen Freispruch mit den positiven Gefühlen des Täters gegenüber seinem 11 jährigen Opfer begründet. Und es ist die Sorglosigkeit, mit der man im benachbarten Ausland Kinder zur Adoption durch Familien frei gibt, die dem traditionellen Bild einer Familie nicht entsprechen.

Im Blick auf diesen unvernünftigen Hintergrund muten die Worte Wladimir Putins über die traditionellen christlichen Wertvorstellungen und die Bedeutung des Glaubens bei der Erziehung wirklich wie Aussagen des gesunden Menschenverstandes an. Er kann einem fast vorkommen wie der Gesalbte aus Kyrus aus dem Buch des Propheten Jesaja Kapitel 45, den Gott an die rechte Hand nimmt, um die babylonische Gefangenschaft zu beenden. Ich weiß nicht, ob unsere Abgeordneten im Europäischen Parlament darüber ernsthaft nachgedacht hatten, als sie dem Antrag von Lunačenka zustimmten.

Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, dass viele Kommentare in lettischer Sprache dem russischen Handeln auf der Krim zustimmen und dabei darauf  hinweisen, dass die USA bei der Wahrnehmung ihrer Interessen ähnlich gehandelt hätten. Dazu kommt noch die Erfahrung, dass sich Europa mit den Sanktionen nicht beeilt. Außerdem meint Russland, dass der Westen keine Wertegemeinschaft sei. Russland hat viel Geld. Der außenpolitische Experte des Europarates Ben Judah schreibt, dass die führenden Persönlichkeiten Russlands heute nicht mehr den Respekt vor dem Westen hätten wie während des Kalten Krieges, denn sie hätten gesehen, wie dienstbeflissen die westlichen Aristokraten, Bankiers und Juristen angesichts der russischen Milliarden werden. Sie haben es gesehen, wie westliche Staaten miteinander wetteifern um den Preis, der beste Geschäftspartner Russlands in der EU zu sein, und sich dabei vorgenommen haben, nicht mehr über die Menschenrechte zu reden. Lösen wir doch die G8 auf! Wen kümmert das?

Andererseits sollten wir uns daran erinnern, dass alle Reden gegen die Homosexualität noch keine christlichen Werte sind. Christliche Werte sind viel mehr die Beachtung der menschlichen Persönlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Freiheit. Unsere ganze Konzeption von den Menschenrechten kommt von der christlichen Auffassung über den Wert und die Würde eines jeden Menschen her, denn jeder Mensch ist zum Gleichnis Gottes erschaffen. Ist Russland wirklich solch eine Festung der christlichen Werte im Vergleich mit Europa, im Vergleich mit Lettland? Sind wir bereit, Kyrus zu bitten, uns zu erobern und uns vom westlichen Babel zu befreien? Oder sollten wir nicht lieber die sechs Jagdflugzeuge der NATO willkommen heißen und mit deren Hilfe unsere Werte in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien verteidigen?

Schon lange hätte ich die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe gern gefragt, ob wir mit der gleichen Entschlossenheit auch für andere traditionelle Werte einstehen. Sind die 40 % oder noch mehr Heterosexuelle, die zusammenleben ohne verheiratete zu sein, nicht die größte Gefahr für die Institution der Ehe? Was hat es für einen Sinn, die besondere Bedeutung der Ehe in der Verfassung zu betonen und sie im täglichen Leben zu brechen? Was hat es für einen Sinn, sich mit den Russen wegen der lettischen Sprache zu verfeinden und diejenigen abzutreiben, die in der Zukunft lettisch sprechen sollten? Wenn wir die christlichen Werte nur auf einem Gebiet verteidigen, aber die anderen gerne dem Hedonismus (denjenigen, für die die Lust das höchste Gut ist) überlassen, dann haben wir es verdient, dass man uns als Lustmenschen bezeichnet. Christliche Werte sind keine Selbstbedienungstafel.

Die Großmächte dieser Welt haben sich um die Ukraine herum gegeneinander versammelt, je nach ihrem weltpolitischen Interesse. Welchen Rat geben wir da der Ukraine selbst? Soll sie nach links gehen, wo man Maidans nicht dulden wird, oder nach rechts? Der Maidan in Kiew war kein Zeichen gegen Russland oder für die Europäische Union. Die Maidan-Aktivistin Aleksandra Kowaļowa schrieb, dass die Menschen auf dem Maidan sich gegen ein Regime des Banditentums, der Korruption und Gewalttätigkeit erhoben haben. Sie traten für ihre Würde, für Gerechtigkeit und für ihre Zukunft ein. Für einen guten und normalen Staat, für ihre eigene Ukraine. Sie sind doch groß und stark, sie können es schaffen. Man sollte sie dabei nicht stören, sondern ihnen helfen und sie unterstützen.

Was bedeutet das für uns? Haben wir die Kraft, um uns vom Janukovičismus in unserem eigenen lettischen Staat zu befreien? Haben wir in unserem Land auf der halben Strecke zwischen Brüssel und Moskau eigene Werte? Christliche? Nationale? Staatliche? Menschliche? Patriotische? Haben wir noch einen Traum, um den herum wir uns sammeln können, um dort zu stehen, wo wir sind – in Lettland – für unsere Würde, unseren Glauben, unser Vaterland, unsere Freiheit, unsere Zukunft? Für unseren guten und normalen Staat. Lasst uns für die Ukraine beten, dass ihr das gelingen möge. Lasst uns auch für Lettland beten. Lasst und beten und arbeiten! Gott helfe uns dabei!

Quelle: Svētdienas Rīts, Zeitschrift der Evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands, Ausgabe Nr. 3 (3880) März 2014.
Übersetzung: Johannes Baumann

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 26. März 2014 um 9:56 und abgelegt unter Gesellschaft / Politik.