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Die Gottesstunden im menschlichen Leben

 „Alles hat seine Zeit“, so heißt es im Predigerbuch Kap. 3. Das bedeutet im Grunde genommen, alles was uns in den von Gott vorgeprägten Zeiten widerfährt, ist Chance, ist Gelegenheit, ist Begegnung mit Gott, Heimsuchung und Heimholung Gottes. So gesehen, kann alles Geschehen zur Gotteszeit werden, wenn wir die jeweilige Zeit recht verstehen. Sieben Gegensatzpaare. Sie spiegeln wichtige Ereignisse im menschlichen Leben wider, Situationen, die wir alle kennen, die uns allen Freude und Leid bereiten, in denen wir uns alle sofort wiederentdecken können. In all diesen Zeiten und ihren Ereignissen spricht Gott.

Das Erste: Geboren werden und Sterben. In der Geburt eines Menschen beginnt die erlebbare Bemühung Gottes um ihn. Was Gott mit einem Menschen vorhat, was er ihm für Chancen gibt, was er ihm in den Weg legt, was er ihm an Glück und Unglück bereitet, um ihn zu sich hin zu lieben, das geschieht in diesem irdischen Leben. Diese Gottesstunden gilt es aufzuspüren und sie als Begegnungsstunden mit ihm zu nutzen. Wenn es hier heißt „pflanzen und ausreißen“, dann sind das Bilder, die das Handeln Gottes am menschlichen Leben beschreiben. Gott pflanzt und Gott reißt aus. Er legt in uns Gaben hinein, das wissen wir. Vieles bleibt unentdeckt. Vieles kommt gar nicht zur Entfaltung, weil die Eltern es verschlafen oder gar nicht entdecken, oder weil keine Zeit oder kein Geld da ist. Da ist vieles, was nicht keimen, sprossen und wachsen kann, genauso wie in der Natur. Und Gott reißt auch etwas heraus. Er reißt uns etwas weg, vornehmlich das, woran wir uns klammern. Und dann sind wir traurig und merken nicht, daß Gott mit seiner Liebe und mit seiner Heimholung dahinter steht. Es ist gut, daß Gott uns das nimmt, woran wir uns klammern, damit die Hände frei werden für das, was er uns an Besserem geben will.

Zweitens: Gott tötet – Gott heilt. Töten nach dem hebräischen Begriff ist der blutige Tod, nicht der sanfte Tod. Das heißt nichts anderes, als daß Gott auch böse Zeiten verhängt, Kriege über ein Volk kommen läßt, Böses ausreifen läßt, Verbrechen geschehen läßt. Da stockt uns schnell der Atem, wenn man dieses unverstehbare Handeln Gottes zu Ende denkt. Aber es gilt, daß Gott in allem Geschehen handelt. Bei Amos heißt es „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut?“ (Amos 3,6). Man muß diesen Gedanken aushalten. Aber Gott kann auch überraschende Heilungen schenken. Gott tötet, Gott heilt. Es gibt Spontanheilungen, da kann man nur staunen. Gott spricht, so geschieht es (Ps 33,9). Man muß kein Charismatiker sein, um an solche Heilungen zu glauben. Gott ist derselbe Gott, heute, gestern und morgen. Dann kommt das Abbrechen und das Bauen. Das scheinen ebenfalls Bilder zu sein für das Handeln Gottes in einem menschlichen Leben. Was Menschen voller Tatkraft und Stolz beginnen, kann Gott im Nu abbrechen. Wie viel ist auf dieser Welt stolz begonnen worden. Ich denke an den Riesenpalast, den der rumänische Diktator Ceaucescu sich zu seiner Ehre hat bauen lassen. Das ist ein so riesiges Gebäude, daß man mehrere Tage braucht, um es zu durchwandern. Es sollte der Regierungssitz dieses Größenwahnsinnigen werden, aber es ist niemals zu Ende gebracht worden. Gott bricht ab. Und Gott baut. Er kann ein Neues gründen. Er kann in eine Wüste hinein sprechen, auch in eine seelische Wüste, und plötzlich wird aus der Wüste ein Gartenland. Es ist wunderbar, wenn man seelisch kranke Menschen erlebt, die mit Gottes Hilfe eines Tages ihre kaputte Vergangenheit unter die Füße bekommen haben und nach vorne blicken. Wir kennen eine Frau, die als Jugendliche mißbraucht worden und seelisch tief geschädigt worden ist, aber durch den Glauben hat sie einen Neuanfang geschafft und ist jetzt in der Lage, andere Menschen zu beraten. Gott baut.

Drittens: Es gibt Zeiten, da kann man nur weinen und klagen, und es gibt Zeiten, wo man lachen und tanzen soll. Alles kommt von Gott. Es ist dumm, wenn Gott uns Zeiten zum Lachen gibt, und wir dann Trübsinn blasen. Dann leben wir am Kairos vorbei. Man sagt so schön, daß man die Feste feiern soll, so wie sie fallen. Das kann man durchaus auch geistlich anwenden. Gott gibt Gelegenheit, sich zu freuen, zu lachen, zu tanzen. Und diese Zeiten gilt es dann aber auch zu nutzen. Aber Gott verhängt auch Weinen und Klagen, und dem muß man sich dann ebenso stellen. Wenn die Trauerarbeit nötig ist, dann ist es verkehrt, Zerstreuungen zu suchen. Wenn Gott uns in unserer Trauer heimsuchen will, dann dürfen wir das Trauern nicht vergessen. Wenn heute Beerdigungsformen angeboten werden, wo der Sarg mit Popkultur bemalt ist und Schlagerrhythmen ertönen, dann wird der Mensch letztlich um sein Recht auf Trauer betrogen. Die Heimsuchung durch Gott wird erschwert.

Viertens: Gott schickt Zeiten der Bedrohung. Da heißt es dann Steine sammeln, um den Gegner abzuwehren. Aber Gott gibt auch wieder Entwarnung. Da kann man die Steine dann wieder wegwerfen. In einem Zug wird dann vom liebkosen, vom „herzen“ gesprochen. Es ist ein schönes Wort, das Luther hier gebraucht. Gemeint ist damit die intime Begegnung von Mann und Frau in der Ehe. Es gibt Zeiten, die Gott schenkt, daß Mann und Frau sich in der Ehe in der intimen Begegnung wirklich erkennen und sich aneinander freuen. Das ist aber eben nicht immer der Fall, auch wenn es Männer, besonders in unserer sexualisierten Zeit, gerne immer wollen. Auch hier gilt es, die Zeiten zu erkennen. Es muß ein innerer Frieden da sein, und es muß ein äußerer Frieden da sein, damit die Intimgemeinschaft von Mann und Frau wirklich eine Hoch-Zeit wird. Es muß ein Raum der Geborgenheit da sein, und das ist nicht immer der Fall. An diesem einen kleinen Halbvers könnten viele Männer viel lernen. Walter Trobisch, der bekannte Eheseelsorger, sagte einmal, daß jede Frau Zärtlichkeit, Ritterlichkeit und Geborgenheit sucht. Besser kann man die Voraussetzungen zum „herzen“ nicht beschreiben. Aber es gibt eben auch Zeiten, wo Gott seinen Segen zur intimen Vereinigung nicht gibt. Es wäre ein Thema für sich, über die liebestötende Antibabypille nachzudenken, die letztlich, psychologisch gesehen, die Frauen verfügbar macht und die damit ein schlimmes Ungleichgewicht in das Verhältnis der Geschlechter hineingetragen hat. Es war der Neomarxist Max Horkheimer, der gesagt hat, daß die Antibabypille der größte Liebestöter aller Zeiten ist. Wie aktuell ist die Bibel doch auch an dieser Stelle: Gott kann das Aufhören des „Herzens“ verfügen.

Fünftens: Gott gibt uns Ziele, Gott läßt uns aber auch Mängel, Verluste, Nöte erleiden, so daß wir seine Hilfe suchen. Er gibt Zeiten des Suchens, wo man nichts hat, wo man als elender Bettler dasteht, wo einem alles schief geht – und sie sind von Gott verfügt, von Gott gewollt. Gott gibt uns Gaben, Gesundheit, Wohlstand, die wir durchaus bewahren sollen und dürfen. Hier ist vom Bewahren die Rede. Aber er kann uns genauso schnell das, was er gegeben hat, wieder wegnehmen. Wir können es so schnell wie wir es bekommen haben auch wieder verlieren. Wir merken wieder, daß das wirklich Treibstachel-Worte sind. Hier muß jeder eingestehen, daß er ganz und gar von Gott abhängig ist. Hiob hat diese plötzlichen Verluste erlitten wie kein anderer. Und er hatte die Größe, dann zu sagen, der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, aber nicht pessimistisch-resignativ, sondern mit dem Bekenntnis „Der Name des Herrn sei gelobt“. Das kann man nicht aus eigenen Kräften. Wenn man die eigenen Lebensgüter und Lebensqualitäten, Lebensziele, Lebenspläne plötzlich aus der Hand genommen bekommt, und dann die Kraft hat zu sagen, der Name des Herrn sei gelobt – dann wird man das schwerlich als menschliche Möglichkeit deuten können. Das kann nur der Heilige Geist bewirken und sonst niemand.

Sechstens: Wir erleben, gerade in unserer Zeit, daß menschliche Beziehungen zerreißen. Das sechste Gegensatzpaar behandelt die zwischenmenschliche Kommunikation. Die Sprache ist sehr bildreich. Zerreißen hat seine Zeit. Zunähen hat seine Zeit. Da denkt man zunächst an das Schneiderhandwerk, aber natürlich ist hier viel mehr gemeint. Das ist die bildhafte Sprache des alttestamentlichen Weisen oder Weisheitslehrers. Wir erleben immer wieder, daß menschliche Beziehungen zerreißen, ohne daß wir es wollen. Wir erleben aber auch, daß man sie wieder „nähen“ kann. Es ist wunderbar zu erleben, wenn Gott die Chance gibt, kaputte Beziehungen wieder aufzubauen, und wenn Menschen diese Chance nutzen. Wir haben in unserer Ehe-Arbeit noch nie einer Krisen- oder Katastrophen-Ehe zur Scheidung geraten, und wir werden das auch in der Zukunft nicht tun. Natürlich gibt es Krisenzeiten. Da reibt man sich aneinander auf, gewollt, ungewollt, bewußt, unbewußt, da zerreißen Beziehungen. Aber es gibt auch die Chance, wieder zu „nähen“. Das ist das Evangelium in diesem Text. Das sollten wir in unserer Umgebung und Verwandtschaft weitersagen: Näht das Zerrissene wieder zusammen, Gott hilft euch dabei! Natürlich führt kein Weg an der Vergebung vorbei. Um im Bild zu bleiben: die Vergebung ist der Faden, der die zerrissenen Teile zusammenhält und wieder zusammenführt. Die Vergebung ist der Schlüssel, um zwischenmenschliche Katastrophen-Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen. Da hilft es nicht, die Ärmel hochzukrempeln, da helfen keine oberflächlichen Appelle nach der Art von „Stell dich nicht so an, es wird schon wieder“. Nein, ein echtes Zusammennähen kann nur mit Vergebung gelingen. Man muß selber in der Vergebung Gottes stehen, und dann kann man auch dem anderen vergeben. Wir bleiben noch bei den zwischenmenschlichen Beziehungen. Manchmal muß man schweigen. Gott selber gibt Schweigezeiten. Schweigen sollte man eigentlich grundsätzlich dort, wo man beleidigt wird. Das ist die beste und die weiseste Reaktion. Aber dann gibt Gott auch Chancen und Gelegenheiten zum Reden, und da muß ich dann auch reden. Wenn mein Nächster ein ermahnendes Wort oder ein ermutigendes Wort braucht, dann darf ich nicht schweigen. Dann muß er etwas hören von mir. Es gibt Gelegenheiten zum christlichen Glaubenszeugnis, die einmalig sind. Die muß ich nutzen und muß sagen, bitte, mach deinen Frieden mit Gott. Man bedauert es immer zutiefst, wenn man solche kairologischen Momente verpaßt hat. Sie sind unendlich kostbar, denn sie kommen von Gott.

Das Siebente: Es gibt Zeiten, in denen wir die Liebe anderer Menschen erfahren, aber es gibt auch Zeiten, wo wir ihren Haß spüren. Es gibt Ablehnung, da schneiden uns Menschen, und manchmal wissen wir gar nicht, warum. Sie glauben irgendwelchen Gerüchten, die über uns hinter unserem Rücken verbreitet werden, und plötzlich ist ein Verhältnis kaputt. Menschen suchen Streit miteinander, und oft nur deswegen, weil sie mit sich selbst im Unreinen sind. Aber das Tröstliche hier an unserem Text ist, daß es Friedensschlüsse gibt. Gott schenkt Gelegenheiten und Zeiten, Frieden zu schließen. Wir selber haben nichts in der Hand. Wir haben nicht in der Hand, ob Menschen mit uns Streit anfangen oder nicht. Das steht nicht in unserem Terminkalender. Wir haben auch nicht in der Hand, mit ihnen Frieden zu schließen. Aber Gott schenkt Gelegenheiten, plötzlich, man sieht es, man spürt es, ein kleines Lächeln bahnt sich an auf dem Gesicht des anderen. Ich kann eine kleine Geste zur Versöhnung beitragen, und plötzlich spricht man wieder miteinander. Gott schiebt im Hintergrund. Ich muß nur aufpassen. Ich darf das, was ich erlebe, nicht als neutrale Zeit, sondern muß es als Gottes Gelegenheit erfahren. Das ist die Weisheit, die es aus dem dritten Kapitel zu lernen gilt.

Pastor Dr. Joachim Cochlovius

Quelle: Joachim Cochlovius, Fröhlich sein trotz Vergänglichkeit – Eine Auslegung des Predigerbuchs, Verlag der Lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms, Groß Oesingen 2009. Das Buch kann hier bestellt werden. [1]