- Gemeindenetzwerk - https://www.gemeindenetzwerk.de -

Die Kehrseite des Zusammenlebens vor der Ehe

Mit 32 feierte eine meiner Patientinnen (ich nenne sie Jennifer) eine üppige Hochzeit in den Weinbergen. Bis dahin hatten Jennifer und ihr Freund bereits vier Jahre zusammen gelebt. Zur Feier kamen Freunde und Familie des Brautpaares sowie zwei Hunde. Als Jennifer nicht einmal ein Jahr später die Therapie bei mir begann war sie auf der Suche nach einem Scheidungsanwalt. “Ich habe mehr Zeit damit verbracht meine Hochzeit zu planen als damit, glücklich verheiratet zu sein,” schluchzte sie. Besonders enttäuschend war für Jennifer, dass sie versucht hatte, alles richtig zu machen. “Meine Eltern haben jung geheiratet und haben sich – natürlich – scheiden lassen. Wir haben zusammen gewohnt! Wie konnte das nur passieren?”

In den letzten 50 Jahren hat die Kohabitation in den USA um 1.500 Prozent zugenommen. Waren es 1960 noch 450.000 Paare, die ohne Trauschein zusammen lebten, so sind es heute über 7,5 Millionen. Die Mehrheit der jungen Erwachsenen zwischen 20 und 30 Jahren lebt zumindest einmal mit einem Partner zusammen, und mehr als der Hälfte aller Ehen geht eine derartige Lebensgemeinschaft voraus. Diese Veränderung ist auf die sexuelle Revolution sowie die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln zurück zu führen, und darüber hinaus ist es bei unserer aktuellen Wirtschaftslage verlockend, Rechnungen teilen zu können. Aber wenn man sich mit Leuten in den Zwanzigern unterhält, hört man auch das: Kohabitation als Prophylaxe. In einer 2001 durchgeführten, landesweiten Studie des “National Marriage Project“, damals an der Rutgers University in New Jersey, heute an der University of Virginia, stimmte fast die Hälfte der 20 bis 29-jährigen der Aussage zu “Du würdest nur jemanden heiraten, der erst einmal mit Dir zusammenzieht, um herauszufinden, ob ihr wirklich zueinander passt.” Ungefähr zwei Drittel waren der Meinung, dass Zusammenleben vor der Ehe ein guter Weg sei, eine Scheidung zu vermeiden.

Allerdings zeigt die Erfahrung das Gegenteil. Paare, die vor der Ehe (und besonders vor einer Verlobung oder sonstiger verpflichtender Bindung) zusammenleben, sind weniger zufrieden mit ihrer Ehe und lassen sich eher scheiden als Paare, die vorher noch nicht zusammen gewohnt haben. Diese negativen Auswirkungen nennt man den “Kohabitationseffekt“. Ursprünglich führten Wissenschaftler diesen Effekt auf die Partnerwahl zurück oder darauf, dass ohne Trauschein zusammenlebende Partner weniger konventionell über die Ehe dachten und daher offener für eine möglich Scheidung waren. Nachdem Kohabitation mittlerweile zur Norm geworden ist, zeigen Studien, dass der Effekt nicht allein auf individuelle Eigenschaften wie Religion, Erziehung oder Politik zurückzuführen ist, sondern dass zumindest einige der Risiken in der Kohabitation selbst begründet sind.

Während Jennifer und ich an der Beantwortung ihrer Frage „Wie konnte das nur passieren“ arbeiteten, redeten wir darüber, wie sie und ihr Freund dazu kamen, zusammen zu ziehen. Ihre Antwort deckte sich mit Studien, die besagen, dass es vielen Paaren „einfach so passiert“. „Wir übernachteten ständig mal beim einen, mal beim anderen,“ sagte sie. „Wir waren gern zusammen, und so war es billiger und praktischer. Es war eine schnelle Entscheidung, aber wenn es nicht funktionieren würde, gab es auch einen schnellen Ausweg.“ Sie schilderte das, was Wissenschaftler „sliding, not deciding“ nennen – also „hineinschliddern, nicht entscheiden“. Vom ersten Date zum Übernachten, über häufiges Übernachten bis hin zur Kohabitation ist es eine graduelle Steigerung – eine die weder von Ringen noch einer Zeremonie manchmal sogar noch nicht einmal von einem Gespräch geprägt ist. Paare umgehen schlicht das Gespräch darüber, weshalb sie zusammenziehen möchten und was das bedeutet.

Wenn Wissenschaftler danach fragent, haben die Partner oft unterschiedliche, unausgesprochene – sogar unbewusste – Vorstellungen. Frauen tendieren dazu, Kohabitation als Vorstufe der Ehe zu sehen, während Männer sie als Möglichkeit betrachten, die Beziehung zu testen oder die bindende Verpflichtung hinauszuschieben. Diese Geschlechterasymmetrie ist ein Ergebnis des fehlenden Gesprächs und bedeutet de facto einen geringen Grad an Bindung, selbst nachdem die Beziehung  sich zur Ehe weiterentwickelt hat. In einem sind sich Frauen und Männer jedoch einig: die Ansprüche an einen Lebenspartner sind geringer als die an einen Ehepartner.

Gegen ein Hineinschliddern in die Kohabitation wäre nichts einzuwenden, wenn das Hinausschliddern ebenso einfach wäre. Ist es aber nicht. Zu oft begeben sich junge Erwachsene in scheinbar günstige, risikoarme Wohnsituationen, aus denen sie Monate, sogar Jahre später nicht mehr herauskommen. Es ist wie mit einem Kreditkartenvertrag mit null Prozent Verzinsung. Nach 12 Monaten, wenn der Zinssatz sich auf 23 Prozent erhöht, ist man gefesselt, da man die bereits gemachten Schulden nicht zurückzahlen kann. Kohabitation kann tatsächlich genauso funktionieren. In der Verhaltensökonomie spricht man dann von Lock-in- oder Anbindeeffekt. Er beschreibt die verminderte Wahrscheinlichkeit nach einer Alternative zu suchen oder sie tatsächlich zu ergreifen, sobald bereits eine Investition getätigt wurde. Je höher die Gründungskosten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu einer anderen, besseren Situation wechseln, vor allem, wenn wir uns die Wechselkosten oder die Zeit, das Geld und den Aufwand dafür vor Augen führen. Kohabitation ist gespickt mit Gründungs- und Wechselkosten. Zusammenleben kann lustig und billig sein, und die Gründungskosten fließen fast unbemerkt mit ein. Nach langen Jahren zwischen altem Gerümpel in einer WG teilen sich Paare gern die Miete für eine kleine Wohnung.  Sie teilen sich Internet und Haustiere und gehen gern zusammen Möbel kaufen. Später haben diese Gründungs- und Wechselkosten dann einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Trennung.

Jennifer hatte das Gefühl, dass ihr Freund sich nie wirklich für sie entschieden hatte. “Ich kam mir vor als wäre ich in einem jahrelangen, nie endenden Bewerbungsprozess, um seine Frau zu werden“, sagte sie. „Wir hatten all diese Möbel, unsere Hunde und dieselben Freunde. Das alles machte es einfach sehr, sehr schwer sich zu trennen. Und dann, als wir Anfang dreißig waren, war es so als würden wir heiraten, weil wir zusammen wohnten.” Ich hatte andere Patienten, die sich ebenfalls wünschten, sie hätten in ihren Zwanzigern nicht Jahre in Beziehungen investiert, die – hätte man nicht zusammen gewohnt – nur Monate gedauert hätten. Andere wiederum möchten sich ihrem Partner verbunden fühlen, sind sich aber unsicher, ob sie ihn bewusst ausgewählt haben. Beziehungen, die auf Bequemlichkeit und Unklarheiten basieren, können uns davon abbringen, nach den Menschen zu suchen, die wir wirklich lieben. Ein Leben, das auf „vielleicht genügst Du“ basiert, fühlt sich einfach nicht so hingebungsvoll an wie ein Leben, das auf dem „ja, wir wollen“ einer festen Bindung oder Ehe begründet ist.  Allerdings scheint die negative Verbindung zwischen Kohabitation und Scheidung laut eines im letzten Monat veröffentlichten Berichts des US-Gesundheitsministeriums rückläufig zu sein. Noch mehr gute Nachrichten liefert eine Studie des Pew Research Center aus 2010: laut dieser Befragung sehen zwei Drittel der Amerikaner Kohabitation als eine Vorstufe der Ehe. Es wird noch viel Zeit brauchen bis diese verbreitete und ernsthafte Auffassung von eheähnlichem Zusammenleben den Kohabitationseffekt abschwächen wird, denn die neuesten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass  notorische „Kohabitatoren“, also Paare mit unterschiedlichen Bindungsgraden und solchen, die Kohabitation als Test ansehen, am ehesten Gefahr laufen unter schlechter Beziehungsqualität zu  leiden oder sich letztlich zu trennen. […] Ich bin weder für noch gegen das Zusammenleben, aber ich bin sehr dafür, dass junge Erwachsene wissen, dass es kein Schutz vor Scheidung oder Unglücklichsein ist, wenn man vor der Ehe zusammenzieht. Es kann sogar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, einen Fehler zu machen – oder zu viel Zeit mit einem Fehler zu verschwenden. Einer meiner Mentoren hat einmal gesagt: „Die beste Zeit an seiner Ehe zu arbeiten ist die Zeit vor der Ehe,“ und heutzutage könnte das bedeuten: vor dem Zusammenleben.

Dr. Meg Jay ist klinische Psychologin an der University of Virginia und Autorin des Buches “The Defining Decade: Why Your Twenties Matter — and How to Make the Most of Them Now.”

Zuerst publiziert: New York Times, 14. April 2012

Quelle: IDAF, Aufsatz des Monats März 2014