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Die große Entfremdung

Donnerstag 13. Februar 2014 von Wüstenstrom e.V.


Wüstenstrom e.V.

Der Verlust der Sexualität

Interessiert uns noch der Mensch? Haben wir noch den Anspruch, ihn zu verstehen und ihm zu seiner eigenen Tiefe und zu seinem eigenen Menschsein zu helfen? – Immer öfter höre ich bei Besuchen in Gemeinden etwas anderes. So in der Frage, mit der ich mich während eines Vortrags konfrontiert sehe: Warum lassen wir die Menschen nicht einfach so, wie sie sind? Warum haben wir als Christen immer etwas zu ändern? Aus einer anderen Gemeinde höre ich, dass dort seit neustem das Wort Notstandstheologie die Runde macht. Sie wird begründet mit der Beobachtung, dass Gott sich auf viele Kompromisse eingelassen habe. Er habe ursprünglich keinen König in Israel gewollt, keine Scheidung und keine Homosexualität. Aber all diese Dinge gebe es, Gott könne sich damit arrangieren und darum müsse man nicht nach Gründen für das eine oder andere Verhalten fragen. Vielmehr müsse man mit der Situation leben lernen. Die Frage der Stunde lautet daher nicht: Wie können wir den Menschen und seine Sexualität verstehen? Die Frage der Stunde lautet: Wie können wir die verschiedenen sexuellen Lebensformen in die Gemeinden integrieren?

Der Mensch bleibt auf der Strecke

Auch wenn das auf den ersten Blick wie eine freundliche Politik der Integration erscheinen mag: der Mensch bleibt dabei tatsächlich auf der Strecke. „Ihn“ treffe ich oft nach den Veranstaltungen und Vorträgen. Er bekennt, dass er sich im Klima der Oberflächlichkeit nicht getraut habe, eine Frage zu stellen. Ob ich noch Zeit hätte? Was ich dann höre, sind Geschichten von Menschen, die in der Sucht nach Pornografie festhängen. In der Gemeinde können sie darüber mit niemandem sprechen. Ein Ehepaar spricht stockend über die Sexualität, die ihnen nicht gelingen will. Sie stehen allein damit. In der gemeindlichen Seelsorge sehen sie derzeit keine Möglichkeit, das Problem anzusprechen. Eine Frau kommt auf mich zu und erzählt, dass sie sich von ihrem Mann bedrängt fühle. Er unterstelle ihr, dass sie prüde sei. Der Pastor, mit dem sie versucht habe darüber zu reden, hat sie auf Paulus verwiesen und den Satz, dass man sich einander nicht sexuell entziehen dürfe. Sie fühle sich schuldig, wenn sie ihrem Mann sexuell nicht zur Verfügung stehe, sei mit ihren Kräften jetzt aber auch am Ende. Nun traut sich auch der junge Mann auf mich zuzukommen, der mich seit dem Ende der Veranstaltung nicht mehr aus den Augen gelassen hat. Mit gesenktem Blick erzählt er, dass er sich in meiner Geschichte wieder erkannt habe. Auch er empfinde für das gleiche Geschlecht. Er habe heute Abend erst verstanden, dass das mit seiner inneren Angst vor anderen Männern zusammenhänge. Er gehe oft auf der Suche nach anonymen Sexualkontakte in die Schwulensauna. Dort sei das Problem für einen Moment wie weg geblasen. Aber im Alltag sei dann alles wieder da. Er fühle sich leicht gekränkt, könne sich mit seiner Männlichkeit kaum aushalten und denke, dass andere ihn auch unangenehm und peinlich finden. Das mache ihm so viel Stress, dass er immer wieder in die durch Illusion aufgeladene Atmosphäre der Gay-Sauna fliehen müsse. Der Sex ermögliche ihm Nähe und gleichzeitige Überwindung seines inneren Glaubens, für andere peinlich zu sein. Er wisse nun nicht, wohin er mit dem, was er verstanden hat, gehen soll. Hier in der Gemeinde hätte er niemanden, mit dem er reden könnte.

All diese Geschichten, die sich leicht um weitere Themen, Fragen und Süchte erweitern ließen, haben eines gemeinsam: Die Menschen, die eine Not mit ihrer Sexualität haben, sind allein und treffen in ihrem Umfeld auf eine große Sprachlosigkeit in Sachen Sexualität. Mein Eindruck dabei ist: Man hat sich in den Gemeinden mit dieser Sprachlosigkeit abgefunden. Wurden wir früher in Gemeinden eingeladen, so bestand ein reges Interesse daran, die Sexualität des Menschen in ihren emotionalen, psychologischen, genetischen Zusammenhängen zu begreifen. Das Interesse war getragen von dem Wunsch, die Fragen von Sexualität, Begehren, Ehe, Treue, Sucht, sexueller Verwirrung in den Kontext des biblischen Zeugnisses einzuordnen. Gleichzeitig war damit der Wunsch verbunden, Menschen mit ihren Fragen im Bereich der Sexualität zu verstehen. Letztlich wollte man helfen. Demgegenüber muss ich mir heute die Frage stellen: Warum geht es in unseren kirchlichen Gremien und Gemeinden heute fast nur noch um die Frage, wie man bestimmte Lebensweisen in den Alltag der Gemeinde integrieren kann? – Für mich liegt der Grund in einer Geschichte der sukzessiven Entfremdung von Sexualität. Ich möchte dieser Annahme in drei Punkten nachgehen:

Entfremdung – erster Teil: Die Technisierung der Sexualität

Ist die Stellung, die wir heute zum Thema Sexualität haben, nicht wesentlich begründet in einer Haltung, die sich mit der Möglichkeit zur künstlichen Empfängnisverhütung entwickelt hat? Begann der Verlust des Verstehens von Sexualität nicht dort, wo man in den 1960er Jahren die Sexualität technisiert und der künstlichen Verhütung zugestimmt hat? Die Evangelische Kirche tat dies 1951 und 1958 und die Befürworter der Pille propagierten: Die Liebe kann jetzt spontan und ohne Folgen gelebt werden (vgl. G. Bührer-Dinkel). Die Aussage führt vor Augen: Sexualität wird damit zum Moment des Glücks, den sich zwei verschaffen. Die Liebe wird aber nicht mehr vernetzt, in Bezug auf das Paar, auf die Dauer von Beziehung, auf die Frucht einer Liebesgemeinschaft und auf das Leben verstanden. Sexualität wird allein auf den Moment spontan erlebten Glücks und der körperlichen Befriedigung reduziert.

Entfremdung wirkt sich aus

Ich weiß nicht ob ich übertreibe? Beginnt aber hier nicht die Geschichte der Entfremdung des Menschen von seiner Sexualität? Wenn Sexualität einfachhin verfügbar ist: welche Notwendigkeit besteht dann noch, sie in ihren Tiefen und ihrer Verwobenheit mit der menschlichen Seele zu verstehen? Stirbt mit der Verfügbarkeit von Sexualität nicht auch das emotionale Wissen und damit die Sprache, mit der Sexualität im Austausch des Paares reflektiert werden könnte? Die Forschung um künstliche Verhütung und Schwangerschaftsabbruch liefert dazu Stichworte wie „Verfügbarkeit und Verführbarkeit“, Libidoverlust, Ausbeutung der Frau, Verlust an Wertschätzung für die Geschlechtlichkeit von Mann und Frau, Verlust der Wertschätzung für das Kind und das Leben (vgl. Elmar Fischer). Gleichzeitig steigt der Glaube, dass Sexualität etwas ist, das jeder kann, das für jeden irgendwie geht und gehen muss und was man sich ja jetzt auch leicht außerhalb von verbindlichen Beziehungen besorgen kann. Wenn man die Lust am Ehepartner verloren hat, braucht man nicht mehr miteinander zu kommunizieren. Man wechselt einfach den Partner. Immerhin lässt die Eheschließungs- und Scheidungsstatistik zwischen 1960 und 2012 eine solche Vermutung zu: So wurden in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1960 689.028 Ehen geschlossen. Ihnen standen 73.418 Scheidungen gegenüber. Im Jahr 2012 ist die Zahl der geschlossenen Ehen auf 387.423 gesunken und die Scheidungen auf die absolute Zahl von 179.147 gestiegen. D.h., man kann schließen, dass derzeit 47 % aller Ehen geschieden werden.

Und warum? Weil man sich seit der Ermöglichung von Pille und Abtreibung von der Verantwortung entbinden kann, die Sexualität mit sich bringt? Vielleicht, weil man sich durch die steigenden Möglichkeiten sexueller Wahlfreiheit nicht mehr vor die Verantwortung gestellt sieht, seine Sexualität zu reflektieren, sie in Sprache zu fassen, damit der Partner meine Bedürfnisse oder meine Not versteht? Oder weil die Sprachlosigkeit in Sachen Liebe und Sexualität den Dialog in den Ehen zum Erliegen gebracht hat? – Sicher wäre es vermessen, die sexuelle Selbstentfremdung des Menschen zur alleinigen Ursache für das Schwinden von Verbindlichkeit in Paarbeziehungen zu erklären. Sexualwissenschaftler wie Gunter Schmidt sehen aber in der Verfügbarkeit von Sexualität auch den Grund dafür, dass Sexualität langweilig geworden ist, weshalb man ständig nach neuen Reizen Ausschau halten müsse (vgl. Gunter Schmidt, Sexuelle Verhältnisse – Das Schwinden der Sexualmoral, 1998). Man spricht demnach in den Ehe- und Paarbeziehungen nicht mehr über Sexualität, sondern füllt die Sprachlosigkeit durch einen neuen Reiz. Der Soziologe und Sexualskeptiker Sven Hillenkamp kommt sogar zu dem Schluss, dass sich in der unendlichen Freiheit von Sexualmöglichkeiten und Reizen das Ende der Liebe ankündigt und bereits vollzieht (vgl. Sven Hillenkamp, Das Ende der Liebe, 2009). Verbindet man das Nachdenken über die genannten Daten und Fakten mit einer Selbstprüfung, so kann man zum Schluss kommen: Wir leben in einer Zeit, in der es nicht mehr notwendig ist, Sexualität zu verstehen oder sie in reflektierte Sprache zu bringen. Denn wenn der namenlose Druck von Sexualität in uns steigt, dann sind wir so frei zu nehmen, was wir zu brauchen meinen.

Entfremdung Teil zwei – Die Rückkehr zum Essentialismus

Neben dem genannten Sprachverlust in Sachen Sexualität steht eine zweite Strömung: die Rückkehr zum Essentialismus. Bezogen auf die Sexualität besagt er: Sexualität, sexuelle Orientierung ist angeboren. Auch diese Grundannahme hat zur Verflachung des Begreifens von Sexualität beigetragen. Sie hängt, wie Bernhard Strauß nachweist, eng mit dem Auswandern der Sexualität aus der Psychologie in Richtung Sozialwissenschaften zusammen (B. Strauß et al, Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung, 2007). Allein innerhalb der Psychiatrie, die sich der Erforschung von Sexualstraften annahm, fragte man noch nach den inneren Motiven, der Verwobenheit von Sexualität und Psyche und der Sprache von Angst und Sehnsucht, die ein Straftäter in seiner Sexualität äußert. Die Erforschung und Diagnose von Sexualitäten, so der Sexualwissenschaftler Robert Stoller, sollte aber dann aufgegeben werden, wenn man niemand verletze, benachteilige oder gegen irgendwelche Gesetze verstoße (vgl. R. Stoller, Perversion, 2001, S. 243ff.). Selbstverständlich sei, so Stoller, klar, dass „uns allen eine Diagnose auferlegt werden kann“ (ebd. S. 252). Solange wir aber nicht straffällig werden, sind wir vom Nachdenken und Begreifen der eigenen Sexualität suspendiert.

Mit solchen und ähnlichen Argumenten wird innerhalb der psychiatrischen und psychologischen Wissenschaft der Forschungsgegenstand „menschliche Sexualität“ auf ein Abstellgleis geschoben. Der Mensch entledigt sich der Arbeit, sich und seine „normale“ Sexualität zu verstehen. Damit wird der Mensch, der an seiner Sexualität leiden könnte, abgeschafft. Von nun an müssen sich nur noch diejenigen ihrer Sexualität verstehend zuwenden, die durch sexuelle Entgleisung straffällig geworden sind. Der größere, verbleibende Rest der Menschen, muss sich nur noch soziologisch, jenseits aller Psychologie, in Gruppen und Kategorien einteilen lassen, die durch verschiedene Formen von Sexualität etikettiert werden. Ziel der Kategorisierung sei die Frage, wie sie aus ihrem Randständigen Dasein, das allein Leiden schafft, befreit und in die Gesellschaft integriert werden können.

Innerkirchliche Entwicklungen

In den 90ger Jahren führt dies innerkirchlich verstärkt zur Auseinandersetzung mit Gruppen von homosexuell lebenden Menschen, die mit ihrer Form Sexualität zu leben, anerkannt werden wollen. Liest man die kirchlichen Verlautbarungen von damals, so fällt auf, dass die psychische Entleerung der Sexualität nun eine Fortsetzung findet und die Sexualität in das Prinzip „angeboren“ und damit „unveränderbar“ überführt wird. Dokumentiert wird diese Bewegung u.a. im Arbeitspapier für rheinische Gemeinden und Kirchenkreise, „Homosexuelle Liebe“ mit dem Satz: „Verändert hat sich die Ausgangshaltung (zur Homosexualität) … durch die Begegnung mit homosexuell lebenden Menschen. Wir haben Zeugnisse homosexuell lebender Menschen gehört, die uns ihre Lebenssituation näher gebracht haben“ (ebd. 1992). Gleichzeitig, heißt es in der Verlautbarung weiter, übernahm man auch eine bestimmte wissenschaftliche Auffassung von Homosexualität. Ab jetzt sprach man von der „anlagebedingten Homosexualität“ (ebd. S. 45). Konkret schloss man sich damit einer essentialistischen Auffassung von Homosexualität an, die im gleichgeschlechtlichen Begehren eine Schöpfungsvariante sah. Eine solche Auffassung wurde in der Geschichte der Sexualwissenschaft von homosexuellen Forschern wie Karl Maria Kertbeny (1825 − 1882), Karl Heinrich Ulrichs (1825 − 1895) und von Magnus Hirschfeld (1868 − 1935) in die Diskussion um Homosexualität eingeführt. Dass eine solche Auffassung von dem Sexualwissenschaftler Rolf Gindorf oder Erwin Haeberle als ideologisch und unwissenschaftlich gebrandmarkt wurde, interessierte niemanden (vgl. R. Gindorf, Sexualwissenschaftliche Sexualforschung 2, 1989, E. Haeberle, Die Sexualität des Menschen, 2000). Vielmehr wurde durch die Sprachfigur „anlagebedingte Homosexualität“ das Terrain abgesteckt, innerhalb dessen das Thema Homosexualität in kirchlicher Seelsorge künftig zu denken sei. Als Begrenzungspfosten diente dabei der Glaube an eine angeborene, unveränderliche Homosexualität; dem folgte die Überzeugung, dass Menschen, die ihre Homosexualität nicht leben dürfen leiden; was zur Konzeption einer Seelsorge führte, die den Homosexuellen und seine Homosexualität unhinterfragbar bestätigte und sich nur noch mit der Frage nach einer möglichen Integration homosexuellen Lebens in die Gemeinde beschäftigte; was ergänzt wurde durch die hartnäckige Diskussion um die Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften.

Ausschluss von anderen Sichtweisen

Dass es Menschen geben könnte, die an ihrer Homosexualität leiden, weil sie diese als nicht zu sich gehörend empfindet oder dass es eine „nicht-angeborene“ Homosexualität geben könnte, wurde aus der Diskussion völlig ausgeklammert. Denn mit der Essentialisierung der Sexualität war klar: Sexualität muss man gar nicht verstehen. Sie ist Schöpfungsvariante, was den Menschen von jeglichem Nachdenken über seine Sexualität entbindet. Zementiert wurde die so aufgestellte Denkregel, in dem man die Gruppen, die anderes vertreten, gekonnt aus dem kirchlichen Leben ausschloss. Sie wurden als „Umpoler“ und „Menschenverachter“ gebrandmarkt und radikalisiert. Denn wer Menschen im Nachdenken über Sexualität begleitet, schafft Leiden, was inhuman ist. Zu keinem Moment wird – übrigens bis heute – daran gedacht, dass sich diese Menschen vielleicht nur zum Sprachrohr derjenigen machen, die in ihrer Sexualität nichts Angeborenes sehen konnten, sondern in ihr das wahrnahmen, was Robert Stoller bei aller Neigung die Diagnose Homosexualität zu eliminieren, so beschrieb: „Auf der Suche nach den vielfältigen Ursachen homosexuellen Verhaltens können sich Befunde ergeben, die nachweisen, dass sich bei vielen Homosexuellen die bevorzugte Objektwahl und wesentliche gewohnheitsmäßige nicht-erotische Verhaltensweisen aus Trauma und Versagung in der Kindheit entwickeln.“ (R. Stoller, Perversion 2001, S. 252). Letztlich durfte es und darf es aber solche Menschen nicht geben, was sich an Bestrebungen zeigt, die Therapie von Homosexualität bei Jugendlichen zu verbieten. Einen entsprechenden Gesetzentwurf wurde am Ende der letzten Legislaturperiode von Bündnis 90/DIE GRÃœNEN unter der Federführung des Abgeordneten Volker Beck in den Bundestag eingebracht und an die Ausschüsse verwiesen.

Das Nachdenken über Sexualität soll nun also von Staatswegen verboten werden. Wer jungen Menschen, mit ihren sexuellen Nöten künftig zuhört, wird mit einer Geldstrafe von mindestens 500 Euro belegt. Ein Effekt auf die Fragen, die Erwachsene Menschen bezüglich ihrer gleichgeschlechtlichen Neigung haben, ist, so Volker Beck in einem Interview des hessischen Rundfunks, ausdrücklich erwünscht.

Der Weg für eine differenzierte, dem Menschen und seiner Sexualität gerecht werdenden Begleitung, wird damit zunehmend erschwert. Und selbst, wenn ein solches Verbot derzeit politisch nicht durchsetzbar ist, die Tatsache, dass solche Gesetze politikfähig und um wissenschaftlichen Dienst des Bundestages durchgewunken werden, wirft auch ein Licht auf das gesamtgesellschaftliche Klima, in dem wir uns befinden.

Die dritte Welle der Entfremdung: „Zeitgemäße Vielfalt“

Die Geschichte der Entfremdung des Menschen von seiner Sexualität ist damit aber noch nicht zu Ende erzählt. So hat man sich in der innerkirchlichen Diskussion der letzten zwanzig Jahren nicht nur konsequent einer wissenschaftlich fundierten Diskussion um das Phänomen Sexualität verweigert, sondern entzieht sich ihr neuerdings durch das Stichwort „zeitgemäß“.

Zeitgemäß bedeutet, dass Sexualität nicht mehr nur in Heterosexualität und Homosexualität gedacht werden soll. Zeitgemäß heißt, Sexualität ist heute, nach dem sie jenseits aller Psychodynamik im Wesenskern oder der vermeintlichen „Geschlechts-Identität“ des Menschen Platz genommen hat, endlich zur vielfältigen Möglichkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe geworden. Wer glaubt, das sei eine Übertreibung oder den Analen einer bloßen sexuellen Befreiung entstiegen, der täuscht sich. In einem neu überarbeiten Handbuch mit dem Titel „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (2012) werden Jugendliche aufgefordert, ein modernes Bordell einzurichten. Dabei sollen sie sich mit der sexuellen Vielfalt, wie sie in unserem Land gelebt wird, auseinandersetzen und dabei folgende Fragen beantworten: Welche Personengruppen, mit welchen sexuellen Vorlieben, müssen in diesem Bordell bedient werden können? Welche Personen mit welchen Fähigkeiten müssen dort angestellt werden, damit „alle möglichen Menschen … zufrieden gestellt werden können?“ (ebd. S. 75). Die Vielfalt folgt neosexuellen Revolution, wie sie der Arzt und Soziologe Volkmar Sigusch für unsere Zeit diagnostiziert (vgl. V. Sigusch, Neosexualitäten 2005). In seinen Schriften ruft der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Sexualforschung an der Universität Frankfurt den Menschen auf, endlich den Glauben an eine festgefügte, anlagebedingte Hetero- und Homosexualität zu überwinden. Zeitgemäß sei, dass der Mensch endlich die Sexualitäten leben lerne, die pervers oder normal in ihm schlummern. Denn dem Menschen sei die freie und perverse Gestaltbarkeit seiner Sexualität möglich, weil er in sich zugleich Romantiker, aber auch Fetischist, Voyirist, Exhibitonist oder Sadist (etc.) sei. Für ihn ist die Sexualität des Menschen neben Vielem vor allem eines: polymorph-pervers (vielgestaltig und verdreht) (vgl. V. Sigusch, Sexualitäten 2013, S. 230).

Innerkirchlich wird der zeitgemäßen Sicht auf Sexualität bereits gefolgt. So verweist man innerhalb der jüngst veröffentlichen Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“, besser bekannt unter dem Titel „Familienpapier“, darauf, dass die Bibel kein eindeutiges Plädoyer zur Ehe enthalte.

Denn wenn man die Bibel sozialgeschichtlich liest, dann wird deutlich, dass die Vielehe des Abraham und Jakob, neben einer gleichgeschlechtliche Beziehung steht, wie sie von Rut, Orpa und Noomi geführt wurde. Selbst die Beziehung, die Jesus zwischen Maria und Johannes gestiftet hat, ist innerhalb der Orientierungshilfe ein Beleg dafür, dass die Bibel den Menschen zur Freiheit ermutigen will, weshalb sie verschiedene Lebensformen, neben die Ehe stelle (vgl. ebd. 44).

Hier findet nun die Entfremdung des Menschen von seiner Sexualität seinen einstweiligen Höhepunkt. Denn wenn alles möglich ist und man nur mit der Zeit zu gehen habe, dann muss eigentlich nur noch die Frage geklärt werden, wie man alle möglichen Formen von Sexualität ethisch legitimieren. Dabei geht es längst nicht mehr allein um die Frage, wie man gelebte Homosexualität mit der christlichen Ethik vereinbaren kann, sondern auch um die Frage, ob nicht die sexuelle Beziehung zu mehreren Partner moralisch vertretbar gemacht werden kann. Eine Tagung der Evangelischen Frauen in Deutschland e.V. und der Männerarbeit der EKD hat sich zu diesem Thema im Juni diesen Jahres in Kassel Gedanken gemacht. „Das Ziel der Fachkonferenz“ so der Einladungsprospekt „ist, Menschen für die Vielfalt von Lebensentwürfen zu sensibilisieren bzw. ihren Blick zu weiten und damit auch Prozesse anzuregen, um neue kirchliche Angebote für Menschen in ihrer heutigen Lebens-, Arbeits- und Beziehungssituation zu entwickeln. Die Fachkonferenz will somit zu einem Klima beitragen, in dem es möglich wird, das gemeinschaftliche Leben in Beziehungen verschiedener Art dankbar als gute Gabe Gottes zu verstehen, anzunehmen und zu leben“. Dass zur Begründung der sexuellen Vielfalt einmal die „anlagebedingte Homosexualität“ ins Feld führt und sich im nächsten Satz an der Sprache der Neosexualität berauscht, in der dem Menschen die Überwindung von „hetero- und homonormativen Verkürzungen“ von Sexualität möglich ist, scheint dabei niemand zu stören. Da es im Ganzen eh nicht um das wirkliche Verstehen und Durchdringen von Sexualität geht, kann man diese wissenschaftliche Ungenauigkeit billigend in Kauf nehmen.

Entfremdung und Lieblosigkeit

An diesem Punkt kehre ich an den Anfang zurück: Die Geschichte um die Auseinandersetzung mit Sexualität zeigt, Sexualität wird nicht psychologisch und im Rahmen menschlichen Lebens verstanden, vielmehr wird sie konsequent nach außen verlagert. So degradiert künstliche Verhütung Sexualität zur bloßen Verfügungsmasse. Im Word Wide Web wird Sexualität gar zur Massenware. In der wissenschaftlichen Forschung wird sie in Soziologie  abgedrängt und verkümmert zur sozialen Kategorie, wo sie als gesellschaftlich, kulturelle Erscheinungsformen statistisch aufgezeichnet werden. So ans Ende gekommen muss man über eine Sexualität in sich nicht mehr nachdenken. Schon einige Zeit ist sie nur noch das politische Statement für einzelne Gruppen, die um Anerkennung und soziale Integration ihrer Lebensformen ringen, sei sie homosexuell, bisexuell, pädosexuell, transsexuell, fetischistisch oder polyamor. Sexualität ist damit nichts, dem der Mensch zwischen Gefühl und Seele achtsam nachspüren soll und durch Sprache einholen kann. Denn von jeder fühl- und sprachmächtigen Durchdringung hat sich der Mensch schon lange verabschiedet.

Laut höre ich aus dieser Summe die Eingangs erwähnte Aufforderung: Lasst sie doch so! Die Konfrontation wird mir von einer christlich engagierten Frau entgegengehalten. Sie rechnet sich selbst dem evangelikalen Spektrum zu. Wenn wir bis hier her den Gedanken der schrittweisen Entfremdung von der Sexualität gefolgt sind, können wir ihren Einwurf verstehen. Denn wie soll sie, sprachlos in einer sexuell sprachlos gewordenen Gesellschaft, hinter der Geschichte, mit der sie ihre Konfrontation rechtfertigt, etwas anders verstehen als eine „angeborene Homosexualität“ oder die Forderung doch endlich die sexuelle Vielfalt des Menschen zuzulassen?

Die Geschichte, die sie ihren Worten beistellt, lässt eine junge Frau erscheinen, die heute in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. Sie sei schon immer eher burschikos gewesen und habe mit Jungs gespielt. Mit ihrem Mädchen- und Frausein, sei sie nie zurecht gekommen. Das wisse sie von der Mutter, die mit dem Mädchen nichts rechtes anfangen konnte. Solchen Menschen könne man doch nicht sagen, dass sie sich verändern sollen.

Sicher, kein Mensch hat das Recht einem Menschen zu sagen, dass er sich verändern soll. Dass ist ein Entschluss, den der Mensch immer alleine und in Verantwortung vor sich selbst zu treffen hat. Aber Zuhören und Verstehen, kann man einem Menschen schon. Würde man das, so müsste man an die Geschichte der Frau manche Fragen stellen. Zum Beispiel die einfach Frage, wie sich das Mädchen wohl gefühlt hat, als die Mutter sie nicht verstand? Oder wie es ihr mit der Tatsache gegangen ist, dass sie sich nicht in die Gruppe der Mädchen integrieren konnte? Man könnte dann fragen, warum sich das Mädchen burschikos verhalten haben? Sei es wirklich nur Veranlagung gewesen oder hatte das burschikose Verhalten im Leben des Mädchens eine regulierende Funktion? Etwa die, sich von einer Mutter, die sie nicht verstehen konnte, zu distanzieren oder die von der Mutter ausgehende Beziehungskälte abzuwehren? Vielleicht hat das ganze Verhalten des Mädchens aber auch etwas mit dem Vater zu tun. Hat er in dem Mädchen unbedingt einen Jungen sehen wollen und hat das Mädchen ihr burschikoses Verhalten entwickelt, um wenigstens vom Vater Nähe zu bekommen, wo ihr schon die Mutter distanziert gegenüber stand? Im dem Moment wo ich mit der Frage der Frau konfrontiert werde, sehe ich viele anderen Frauen mit ähnlichen Verhalten vor mir und höre die Not, die sie mir in ihrer Geschichte nahe gebracht haben. Das Mädchen hat niemand, der ihr zuhört. Die Geschichte des Mädchens bleibt uns begraben unter dem Satz, „Lasst sie doch so“, verborgen! Wird hier die Entfremdung vom inneren Wissen um Sexualität zur Lieblosigkeit? Lässt die Sprachlosigkeit in Sachen Sexualität, den Menschen, der an seiner Sexualität leidet, nicht einfach im Stich? Vielleicht wird ja mit der vierten Welle der Entfremdung, auch die Tatsache abgeschafft, dass ein Mensch an seiner sexuellen Orientierung leiden kann? Sind wir nicht schon mitten darin?

Und was nun? Gott beauftragt uns, den nächsten zu lieben. Ich weiß nicht ob sie mir zustimmen: Die Entfremdung von Sexualität hat unsere Gesellschaft zwar liberaler gemacht, sie befördert aber auch eine Lieblosigkeit und Kälte, die an der Not von Menschen einfach vorbei geht.

Ich denke, das widerspricht sowohl der Würde des Menschen, mit der wir aufgefordert sind, dem Menschen alles an die Hand zu geben, damit er sich verstehen kann. Sie widerspricht aber auch dem Grundsatz Jesu, der sich verstehend und erbarmend auf den Menschen und seine innere Wirklichkeit einlässt. Wollen wir den Menschen und seiner Sexualität aber gerecht werden, dann müssen wir beginnen, die Entfremdung zu überwinden. Das aber kann nur gelingen, wenn wir bei uns und dem Verstehen unserer Sexualität beginnen.

Markus S. Hoffmann

Quelle: Wüstenstrom, Die Liebe wächst trotzdem, 6.12.2013 (www.wuestenstrom.de)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Donnerstag 13. Februar 2014 um 12:01 und abgelegt unter Seelsorge / Lebenshilfe, Sexualethik.