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Festvortrag: 500 Jahre Reformation – 10 Jahre Internationale Martin Luther Stiftung

Montag 9. April 2018 von Dr. Michael J. Inacker


Dr. Michael J. Inacker

Hier an diesem für uns Protestanten heiligen Ort, auf der Wartburg, mit dem kraftvollen Redner Luther im Rücken den Festvortrag zu halten, ist nicht einfach. Aber wir sind als Luther-Stiftung natürlich bewusst in diesem Jahr hierhin gegangen – 500 Jahre Reformation und – etwas bescheidener – 10 Jahre Luther Stiftung: Das ist Anlass für die Veranstaltung hier, und dass wir mit einer Regel gebrochen haben: Den Festvortrag hält kein Ehrengast, sondern der Vorsitzende der Stiftung.

Vor allem den Bogen von der Reformation hin zu den aktuellen Entwicklungen in Deutschland zu schlagen, ist nicht einfach. Luther wird ja für Vieles in Anspruch genommen – inzwischen ja schon auch für das Erstarken der AfD. Geschichtliche Vereinfacher gibt es ja genug. Und die Versuche, von Luther über Friedrich den Großen, Bismarck eine Linie bis zu Hitler und dem Holocaust zu ziehen, musste der arme Luther auch in diesem Jahr über sich ergehen lassen. Und wissen Sie, was das Schöne daran ist? Luther wird auch das überleben.

Ich will also versuchen, einen weiten historischen Bogen zu schlagen, nochmal an das erinnern, was die Reformation ausmacht, heute bedeutet und wie es sich mit dem Land der Deutschen derzeit verhält.

Wirkliche Revolutionen beginnen mit der Art und Weise, wie wir Dinge betrachten, wenn uns die Augen geöffnet werden. Und das hat Luther getan. Er hat den Menschen vor 500 Jahren die Augen geöffnet für die Unmündigkeit, in der sie sich befanden, nämlich Glaubenssätze einfach ungeprüft als Vorgaben von oben – sei es durch die damalige Kirche, sei es durch damaligen Herrscher – zu übernehmen.

Ohne Luther keine Reformation. Ohne Reformation keine Rückführung des Glaubens auf den Kern von Gnade und der Schrift. Und ohne diesen Kern keine evangelische Kirche – lutherisch, reformiert oder uniert. Und ohne evangelische Kirche keine starke katholische Kirche. Der Wettbewerb hat die Christen belebt, die Katholiken am Ende zur Selbsterkenntnis gebracht.

Und wir Protestanten können uns nicht – selbst wenn wir wollten – seiner fortdauernden Kraft entziehen. Es gibt eine interessante wissenschaftliche Disziplin – die Religionssoziologie -, die untersucht, wie religiöse Traditionen in uns fortwirken – selbst 500 Jahre später, und auch selbst dann, wenn sich einzelne von ihrer Kirche losgesagt haben.

Einer der bedeutendsten Religionssoziologen, Gerhardt Schmidtchen, hat in seinem Buch „Protestanten und Katholiken“ ein wunderschönes Beispiel dafür benannt: Einige von Ihnen kennen bestimmt noch die Zigaretten-Marke „Peter Stuyvesant“. Diese wurde in den 70er und 80er Jahr von deutlich mehr Protestanten als Katholiken geraucht. Woran lag das? Auf der Packung war schließlich nicht das Gesicht von Martin Luther abgebildet. Die Erklärung ist überraschend – weil sie die Wirkungsmacht religiöser Prägung selbst beim Zigarettenkonsum zeigt. Evangelische Christen sind reisefreudiger als ihre katholischen Brüder. Das hängt damit zusammen, dass die Welt des Protestanten eine offene, nicht strukturierte Welt ist. Wir haben kein Lehramt, keinen Papst, keine Kardinäle, selbst das Wort „Bischof“ scheuen wir und sprechen lieber vom „Präses“. Der Protestant ist nicht festgenagelt auf seine Position. Er reist gerne, entdeckt die Welt, bricht zu neuen Ufern auf. Kein Wunder, dass sich deshalb Protestanten vom Slogan von Peter Stuyvesant besonders angezogen fühlten: Die Zigarette warb mit dem „Duft der großen weiten Welt“, und das hat die Protestanten neugierig gemacht.

Dies mag uns heute vielleicht amüsieren. Doch andere Eigenschaften sind ebenfalls prägend für evangelische Christen – und jetzt wird es ernster: Sparsamkeit, Geschäftsklugheit und das Verständnis vom Beruf als Berufung. Was wir Protestanten machen, machen wir perfekt. Allerdings auch mit dem Risiko, dass Beruf und Erwerb Selbstzweck werden. Pointiert könnte man sagen: Wir Protestanten leben, um zu arbeiten. Wir arbeiten aber nicht, um zu leben.

Diese Prägung besteht bis heute fort, auch wenn sich die westliche Welt immer weiter säkularisiert. Bis in die aktuelle Euro-Krise lässt sich erkennen, dass es eine nähere Beziehung von Protestantismus und Wirtschaft gibt. So ist es beispielsweise auffällig, dass die Euro-Krise eher den katholisch oder orthodox geprägten Süden Europas mit Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal betrifft, während der protestantische Norden mit Deutschland, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern wirtschaftlich besser und weniger verschuldet dasteht. Diese wirtschaftliche Diskrepanz lässt sich im Übrigen auch für das katholische Südamerika beobachten. Und um es zu vervollständigen: Dieser Unterschied lässt sich auch in Nordrhein-Westfalen beobachten. Die Auswertungen der Wirtschaftsauskunftei Creditreform, die unter anderem die Kreditwürdigkeit von Unternehmen analysiert, zeigen, dass die Unternehmen entlang der katholischen Rheinschiene einen höheren Verschuldungsgrad haben als im evangelisch geprägten Westfalen und Bergischen Land.

Warum nenne ich diese Beispiele? Weil das lutherische Wirken sehr lebendig ist. Luther lebt. Auch wenn er gerne, leider auch in unserer Kirche, als Mann für das Museum gesehen wird. Dort möchten ihn viele am liebsten verstecken. Aber es ist so wie in dem Hollywood-Film „Nacht im Museum“ – wenn wir, wenn Sie genau hinschauen, dann zwinkert Luther Ihnen zu und bittet darum, aus der Glasvitrine hervorgeholt zu werden. Luther ist kein Mann fürs Museum, er ist ein Mann fürs Leben. Für unser Leben zwischen privatem Glück und Leid, Euro-Krise, Flüchtlingskrise und Terrorkrise.

Wer Luther naht, wird vom Leben berührt: Luther – der Reformator, evangelische Kirchenvater, Augustiner-Mönch, Mensch im Ringen mit den Anfechtungen seiner Zeit und mit den politischen Mächten, Mittler zwischen Mittelalter und Neuzeit. Seine Impulse aus Freiheitsdrang, Vernunft und fundamentalem Gottvertrauen wirken bis heute fort.

Luther ist und bleibt für uns Protestanten eine feste Burg. Er ist das Gegenteil von Zeitgeist-Orientierung, also ganz anders als Teile der evangelischen Kirche in der Vergangenheit und Zukunft.

Freiheit war für Luther nie ungebunden, sondern immer gepaart mit Verantwortung. In seiner berühmten Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen schreibt Luther: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Dieser Auftrag an uns, seine Theologie, sein Grundverständnis von der Freiheit eines Christenmenschen, entfalten bis heute eine ungeheure Wucht.

Ohne Luther wäre die Moderne nicht denkbar, er stand am Beginn der Neuzeit. Er hat die Freiheit – die die damalige Institution Kirche für sich nach außen gerne in Anspruch nahm, nach Innen aber verweigerte – dem einzelnen Menschen zurückgegeben.

Und das Vernunftprinzip hat er eingeführt. Auf dem Wormser Reichstag wollte er sich nur widerlegen lassen durch „Zeugnisse der Schrift“ oder „klare Vernunftgründe“.

Freiheit, Verantwortung und Erkenntnis – das war von nun an etwas, das der gläubige Mensch mit sich und Gott ausmachen konnte. Oder, wie es der Historiker Thomas Nipperdey einmal formulierte: „Die Gültigkeit religiöser und ethischer Normen, die der einzelne Mensch akzeptiert, wird von ihm selber durch seine Zustimmung erzeugt.“

Der Mensch war nicht mehr ein Spielball fremder Mächte – gleichgültig ob in Politik, Wirtschaft oder Kirche. Er bestimmte mit, wurde aktiv. Deshalb standen Protestanten (ich sage bewusst nicht die evangelischen Kirchen) an vorderster Front für die Durchsetzung von Demokratie und einem freien Unternehmertum, das sich aber seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst war. Die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft wurden von bewussten evangelischen Christen im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur gelegt. Und so ergab sich, dass unsere freiheitliche Demokratie in der sozialen Marktwirtschaft ihre wirtschaftliche Ergänzung gefunden hat. Eine Wirtschaftsordnung – mit allen Defiziten – die auf sozialen Ausgleich und Arbeitnehmer-Mitwirkung bei gleichzeitiger Leistungs- und Gewinnorientierung setzt, hat mit ihrem Erfolg viel dazu beigetragen, um den zweiten demokratischen Versuch nach Weimar in Deutschland zu verankern. Und auch der demokratische Umbruch in der DDR wurde vielfach aus den evangelischen Kirchen herausgetragen. Viele Pfarrer oder Pfarrerskinder gingen in die Politik. Bis vor kurzem hatten wir noch einen evangelischen Pfarrer als Bundespräsidenten und eine Pfarrerstochter als Kanzlerin.

Überhaupt das evangelische Pfarrhaus: Es hat den Protestantismus stark gemacht. Ihm verdanken wir protestantische Persönlichkeiten, die, ausgerüstet mit einem Rucksack aus Werten, Überzeugungen und dem Anspruch zur Gestaltung und gepaart mit christlich-lutherischer Verantwortungsethik, ihre jeweiligen Bereiche verändert haben. Aus diesem besonderen Eltern- und Glaubenshaus sind Wissenschaftler, Ingenieure, Banker, Journalisten, Bischöfe, Terroristen, Unternehmer und Politiker hervorgegangen. Das Pfarrhaus und die dort lebende Pfarrerfamilie haben wie Leuchttürme gewirkt. Gerade in dunklen oder trüben Zeiten gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland und auch anderen protestantisch geprägten Ländern ist die Strahlkraft des Pfarrhauses von besonderer Bedeutung gewesen.

Allerdings – auch dies gehört zur historischen Wahrheit – die evangelische Kirche selbst hat in den Jahrhunderten Ihrer Existenz diese Potenzial nicht nur nicht genutzt, sondern manchmal auch verdrängt. Heute kaum vorstellbar, aber bis 1945 gehörte die evangelische Kirche eher zu den Mächten, die die Demokratie ablehnten als förderten. Und gerade Protestanten sind zu allen Zeiten dankbare Abnehmer politischer Heilslehren gewesen – gleichgültig ob von ganz rechts oder ganz links. Und hier ist unsere große lutherische Herausforderung. Die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zur Erkenntnis von Gut und Böse zu kommen, sind Lust und Last zugleich.

Papier statt Papst, also lesen, nachdenken, studieren anstelle Vorgaben aus Rom einfach abzunicken, diese intellektuelle Veränderung setzt eine starke, unbestechliche und unabhängige Persönlichkeit voraus. Denn gerade wegen des Wegfalls von starken Institutionen – wie schon gesagt, kein Lehramt und kein Papst, der einem klare Weisung gibt, stattdessen das Priestertum aller Gläubigen – benötigt der Protestant einen starken und unabhängigen Charakter. Ansonsten droht die Anfälligkeit permanent nach innerweltlichen Ersatzstrukturen zu suchen, die dem Protestanten dann jenen festen Halt geben, den die Katholiken in ihrer Kirche und dem Lehramt haben.

Auch hier gibt es ein interessantes Beispiel aus der Religionssoziologie: Protestantische Frauen neigen dazu „Putzteufel“ zu sein, Ordnung zu übertreiben. Warum ist es so? Jemand, der sich durch seine Konfession, seinen Glauben in die Welt geworfen sieht, mitunter allein gelassen fühlt mit sich und Gott, der sucht Ersatz. Und sei es nur dadurch, dass er für alles zu Hause Ordnung und Sauberkeit braucht, weil er das Unklare, das Ungefähre, das Unordentliche nicht ertragen kann.

Heute denkt die Kirche – ein wenig selbstgefällig – sie hätte die Verfehlungen und Irrungen früherer Jahrhunderte abgestreift. Doch auch heute passen sich einige von Luthers Nachfolgern nur zu bereitwillig den Strömungen der Zeit an. Die evangelische Kirche bildet in ihrer Funktionärs-Struktur schon lange nicht mehr die Breite der evangelischen Christen ab. Bitte nicht falsch verstehen: Ich will auch keine CDU-Kirche, aber die weitverbreitete Doppelfunktion von SPD und Grünen Parteifunktionären in kirchlichen Gremien von Synoden bis Kirchentagen ist auffällig und macht die evangelische Kirche langweilig, berechenbar und einseitig – und damit auch unattraktiv als Burg unseres Glaubens. Viele Stellungnahmen atmen heute den rot-grünen Zeitgeist. Der Reformator Luther hingegen hatte einen klaren Kompass. „Hier stehe ich und kann nicht anders“, soll er im Angesicht einer möglichen Todesstrafe auf dem Wormser Reichstag gesagt haben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Religion hat Kraft“, so hat es der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm jüngst formuliert. Der Bischof hat leider nicht Recht. Die christliche Religion in Deutschland hat keine Kraft. Und ihre Schwäche ist die Stärke des Islam. Ein Land, dessen Kirchen voll wären, dessen Bürger um ihre christliche Identität wüssten, bräuchte selbst bei einer Million Flüchtlinge sich nicht Bange machen zu lassen. Doch wegen der Selbstvergessenheit von Politik und Kirchenfunktionären wird die Flüchtlingskrise die Entchristlichung Deutschlands beschleunigen. Das Verschließen der Augen vor diesen Folgen einer islamisch dominierten Völkerwanderung, versteckt unter falsch verstandener christlicher Toleranz, verändert das Land. „Deutschland wird muslimischer“, formuliert selbst der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber in der „Süddeutschen Zeitung“ und ergänzt, „eine indifferente Toleranz führt dabei nicht weiter“. Religion sei zwar persönlich, aber immer auch öffentlich. Gerade deshalb werden Religionskonflikte erst dann überwunden, wenn Religion nicht zur Herabwürdigung oder Unterdrückung anderer missbraucht wird.

Das Christentum hat durch Aufklärung und Säkularisierung gelernt. Diesen Strömungen gegenüber haben sich aber gewichtige Teile des Islam verschlossen. Fundamentalistische Muslime sind Teil der Völkerwanderung, die jetzt in unser Land kommt. Auch christliche Flüchtlinge sind darunter, diese fürchten aber teilweise um ihr Leben. Die normale Antwort wäre Abgrenzung gegen solche Kräfte und deren Ausweisung.

Doch Politik und Teile der Kirchen geben die falsche Antwort. Weil man sich an die Ursache, unkontrollierte Zuwanderung, nicht herantraut, werden Spielregeln und Werte, auch die christlichen Werte, unserer freiheitlichen Demokratie aufs Spiel gesetzt. Um die Kraft des Islams zu besänftigen, setzt man nicht auf den starken Staat, sondern auf Laizismus – die Zurückdrängung jeder Religion in der Öffentlichkeit. Das aber, meine Damen und Herren, wird die christliche Religion härter treffen als den Islam. Bereits im Frühjahr hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Kopftuch-Urteil festgelegt, dass eine Privilegierung des christlichen Glaubens im öffentlichen Raum nicht der Verfassung und Religionsfreiheit entspricht.

Die Kirchen haben das Urteil verschlafen. Kirchengegner, aber auch muslimische Gemeinschaften, haben jetzt einen immer stärkeren Hebel gegen die hervorgehobene öffentliche Stellung des christlichen Glaubens. In der brandenburgischen Landesregierung wurde selbst Sternsingern der Zutritt verweigert, weil dies angeblich nicht mit der Religionsneutralität vereinbar sei.

Um den immer größeren Anteil von Muslimen zu befrieden, werden die Kirchen relativiert – im Kanzleramt wird bereits zum Fastenbrechen am Ende des Ramadans eingeladen. Deutschland ist tolerant und ist es auch gegenüber Muslimen. Toleranz heißt aber nicht Selbstaufgabe. Und der Prozess setzt sich fort…

Das jüngste Beispiel kommt aus der deutschen Wirtschaft. Eines der größten Handelsunternehmen Europas, Lidl, von der in Baden-Württemberg ansässigen Schwarz-Gruppe, spielt mit dem wichtigsten Symbol der Christenheit aus vorauseilendem Gehorsam Versteck. Das Unternehmen hat in mehreren Ländern auf Verpackungen seiner Marke „Eridanous“ mit griechischen Produkten – etwa Bifteki, Feta und Tzatziki, Kreuze wegretuschiert. Die Antwort des Unternehmens auf Anfrage von Kunden sowie von Idea fallen wenig überzeugend aus: Weder eine politische noch religiöse „Parteinahme“ sei für das Unternehmen „relevant“. Nun hat man zwar keine Partei genommen – was der Fall wäre, wenn man religiöse Symbole, die vorher nicht da waren, hinzugefügt hätte. Aber auch eine Parteiverleugnung ist letztlich Parteinahme – eine negative oder eine Parteinahme für die Kritiker und Gegner des Kreuzes.

Wer die christliche Symbolik wegretuschiert oder versteckt, der drückt damit auch etwas aus, nämlich seine Angst davor, die Werte und Grundsätze Europas und Deutschlands zu achten. In dem Fall ist die vermeintliche Angst, dass sich Nicht-Christen von Kreuzen auf Käseverpackungen verletzt fühlen könnten und dem Unternehmen Lidl Schwierigkeiten machten, offenbar größer als die Angst vor christlichen Kunden, die sich enttäuscht abwenden.

Zwar hat das Unternehmen inzwischen seine Entscheidung korrigiert. Doch sagt dieser Vorgang an sich viel aus: Erstens über das Management und die Eigentümer bei dem Discounter aus Neckarsulm. Dass Wertschöpfung auch Werte voraussetzt, ist dort in Vergessenheit geraten. Dass Unternehmen immer auch gesellschaftliche Verantwortung tragen und dass der Horizont über das reine Geldverdienen hinausgeht, wird an Management-Schools und Universitäten offenbar nicht berücksichtigt.

Zweitens aber zeigt sich wie groß inzwischen die Angst in unserer Gesellschaft vor dem Islam und seinem extremistischen Ableger ist. Gleichgültig, ob deutsche Kaufhäuser Produkte aus Israel aus dem Sortiment nehmen oder eben Kreuze verstecken – Ursache sind Sorge, Kleinmut und vorauseilender Gehorsam. Es stimmt eben schon lange nicht mehr die Floskel unserer Regierungen, die nach jedem Terroranschlag ausgesprochen wird, dass wir unsere Lebensweise und Werte nicht aufgeben. Wir sind längst dabei – unsere Freiheit und unser Glaube sind auf dem Rückzug.

Natürlich gibt es keine christlichen Unternehmen – genauso wenig wie es einen christlichen Staat gibt, aber unsere Verfassung, die Werte unserer Gesellschaftlich sind und bleiben christlich geprägt. Wenn in Deutschland und Europa, also gemeinhin dem christlichen Abendland, die eigenen Werte, religiösen Traditionen und Symbole nicht mehr geachtet, sondern verborgen werden, dann verlieren auch die Muslime den Respekt vor unserer Kultur. In welche Gesellschaft und Wertvorstellungen hinein soll dann Integration überhaupt noch gelingen?

Ich wiederhole: Die Schwäche des Christentums ist die Stärke des Islam. Wir brauchen nicht über die wachsende Dominanz des Islams zu klagen, wenn das christliche Abendland und seine Gesellschaften, einschließlich der sie tragenden Institutionen, permanent auf dem Rückzug sind.

Die Kirche Luthers hat gegen diesen Prozess keine Strategie – weder gegenüber den Gerichten, noch gegenüber Politik und Gesellschaft. Und die CDU fällt als Partner aus, weil ihre Politik, die Politik einer C-Partei, mitverantwortlich für die weitere Entchristlichung ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die konstante Schrumpfung der Kirchen in den freiheitlich-demokratisch verfassten Wohlstandsgesellschaften der westlichen Welt lässt bisweilen gar an ein „Ende des Christentums in Europa“ (Eberhard von Gemmingen) denken. Diese Szenarien hat jüngst der katholische Politikwissenschaftler Andreas Püttmann umfassend beschrieben, und ich will diese an dieser Stelle zusammenfassen: Zwar mag die Warnung vor dem Ende des Christentums in Europa voreilig sein angesichts der unwägbaren Zeitläufe, die dem tradierten Glauben durchaus wieder Zulauf verschaffen könnten, und übertrieben im Blick auf seine immer noch eindrucksvollen Ressourcen sozialer Wirksamkeit, von der globalen, in Afrika und Asien wachsenden Bedeutung der christlichen Religion ganz zu schweigen. Doch tut man gut daran, so sagt Püttmann, sich für das eher pessimistische Regionalszenario zu wappnen: geistlich, organisatorisch und auch psychologisch. Denn Meinungsminderheiten neigen dazu, sich weniger zu ihren Überzeugungen zu bekennen, während die wahrgenommene Mehrheit sich umso ungehemmter exponiert und so noch übermächtiger erscheinen kann als sie tatsächlich ist, so die empirisch gestützte Theorie der „Schweigespirale“ der deutschen Soziologin Elisabeth Noelle. Insofern könnte sich der Abwärtstrend sozialpsychologisch beschleunigen. Das Glaubensleben ist nämlich auch ein „gruppendynamischer Prozess“ (Renate Köcher).

In weiten Teilen Europas stellt sich das Christentum inzwischen als „erkaltete“ Religion dar. Die Überzeugung der Gläubigen, eine Wahrheit gefunden zu haben, die das Leben prägen soll und tatsächlich bereichert, die ein jenseitiges Heil erlangen lässt und anderen Menschen mitzuteilen ist (Mission), findet man in vielen Gemeinden kaum noch. Wesentliche Inhalte des Credos und des Katechismus werden von Mehrheiten der Kirchenmitglieder selbst nicht geglaubt oder sogar ausdrücklich abgelehnt.

Die im Vergleich zu Kirchgang und Gebet relative Stabilität des bekundeten Gottesglaubens beurteilen Religionssoziologen als weder zukunftsfest noch sonderlich lebensrelevant. Sie verdanke sich neben dem Faktor der sozialen Erwünschtheit in religiösen Mehrheitskulturen auch dem Umstand, dass „Überzeugungen anstrengungslos beibehalten“ werden können, während „Praktiken zu ihrer Aufrechterhaltung immer wieder vollzogen werden müssen“ (Pollack/Rosta: Religion in der Moderne, 2015). Dass man irgendwie an Gott glaube, ist leicht gesagt. Empirisch zeigt sich: Der Gottesdienst ist nicht nur theologisch, sondern auch kirchensoziologisch die zentrale kirchliche Veranstaltung, die die Mitglieder zu binden vermag. Die Gottesdienstteilnahme ist ein erstaunlich guter Indikator für die individuelle Religiosität insgesamt. Die Annahme, „dass es sich beim Kirchgang um eine bloß äußerliche Verhaltensweise handelt, die mit der individuellen Religiosität nichts oder fast nichts zu tun hat, ist falsch“ (ebd.). Dies erklärt die durchschnittlich höhere Bindungskraft der katholischen Konfession im Vergleich zur protestantischen (abgesehen von freikirchlich-charismatischen Gemeinschaften), lässt aber auch erwarten, dass angesichts des rückläufigen Kirchenbesuchs der Glaube an Gott mit Zeitverzug ebenfalls an Bedeutung verlieren wird.

Besonders beunruhigen müssen die Kirchen „erdrutschartige Abbrüche“ (Pollack) in der jungen Generation: Ihrer Kirche verbunden zu sein, bekunden westdeutsche Unter-30-jährige nicht einmal halb so oft wie Über-60-jährige; 9 Prozent der jungen Leute beten täglich, 16 Prozent wöchentlich. Nur ein kleiner Teil der kirchlich Distanzierten oder Areligiösen findet später im Leben zu lebendigem Glauben und kirchlicher Praxis. Das Altersgefälle ist bei allen religiösen Indikatoren im Wesentlichen mit einem Kohorteneffekt zu erklären. Eine Zunahme der Religiosität im Lebenszyklus ist nicht die Regel.

Der religiöse Trend stellt sich in Westeuropa auf den ersten Blick düster dar im Vergleich zu Russland und anderen Ländern Osteuropas, in denen nach dem Kommunismus die Kirchenmitgliedschaft und die religiöse Selbsteinschätzung deutlich zunahmen. Doch auch hier bejaht meistens nur eine Minderheit die christliche Vorstellung vom persönlichen Gott (Ausnahmen: Ukraine: 55%, Polen, Albanien: 52%). Wie im Westen nehmen Formen des Glaubens an eine unpersönliche überirdische Macht zu.

Als Zeremonienmeisterin, Moralanstalt, Sozialagentur und Rückzugsort ist die Kirche auch in säkularisierten Gesellschaften wie der deutschen weiterhin erwünscht – ausdrücklich auch unter Agnostikern. Furcht vor einer „Gesellschaft ohne Gott“ findet sich in Deutschland in allen Parteien. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer von den „Grünen“ schrieb in seinem Buch: „Die Linke nach dem Sozialismus“ 1992: „Eine Ethik ohne religiöse Fundierung (…) scheint in der Moderne einfach nicht zu funktionieren“.

Doch sind wir ehrlich: Die Kirche wird geschätzt für ihre erhebenden biographischen Übergangsrituale, als Anstandsschule für den Nachwuchs und nicht zuletzt aus dem sozialpsychologischen Grund der Geborgenheit in der Mehrheitskultur. Zwingt man die Gruppe der Agnostiker, sich für oder gegen den Gottesglauben zu entscheiden, optieren die westdeutschen zu 32 Prozent, die ostdeutschen nur zu 10 Prozent zugunsten des Glaubens – ein auch europaweit auffallender Befund (Slowakei: 53%, Polen: 72%). Das Christentum ist noch immer eine gesellschaftsweit akzeptierte Größe, die „stärker von der mehrheitlichen Bestätigung als von der Herausforderung durch Wettbewerb und Konflikt“ lebt und von der sich nur eine kleine Minderheit entschieden distanziert; das vorherrschende Verhältnis zur Kirche ist von „pragmatischem Desinteresse“ gekennzeichnet, sie ist „der Anwalt des Unverfügbaren, die Institution im Hintergrund, auf die man im Notfalle zurückgreifen möchte, an deren Vollzügen man selbst aber kaum teilnimmt und die man für die Bewältigung des Alltags selbst zumeist nicht als notwendig erachtet“ (Pollack).

Laut den Arbeiten von Andreas Püttmann halten Zweidrittelmehrheiten der deutschen Bevölkerung Europa für „sehr stark“ oder „stark“ durch das Christentum geprägt, befürworten den schulischen Religionsunterricht und halten eine religiöse Erziehung für wichtig für Kinder (nur 23 Prozent widersprechen: „macht keinen Unterschied“). Eine einfache Mehrheit findet es „sehr“ (18%) oder „auch wichtig“ (35%), „dass eine Partei sich an christlichen Grundsätzen orientiert“. Das sind sogar etwas mehr Befragte als jene, die christliche Werte für ihr eigenes Leben wichtig nennen. Ein Teil der Gesellschaft lebt anscheinend nach dem Motto: „Religion ist gut – aber für die anderen“ (Alfred Grosser).

Die Selbstsäkularisierung der Modernitätsbeflissenen führt aber irgendwann eine Generation später zur Milieuauflösung. „Eine distanzierte Kirchenmitgliedschaft vererbt sich nicht. Sie stirbt aus“ (Nikolaus Schneider). Ein um den jenseitigen Glaubenskern – die Auferstehung, das Ewige Leben, das Jüngste Gericht, die Wiederkunft des Herrn – amputiertes Kulturchristentum hat keine wirkliche, existentielle Tröstung mehr zu bieten. Seine Sozialphilosophie mag eine Klugheitsressource bleiben, doch Menschen für Glaube und Kirche zu „entflammen“ vermag sie nicht. Sie lässt nicht in den Gottesdienst strömen, allenfalls tröpfeln.

Biologen nennen die optische Angleichung an die Umwelt bzw. andere Arten um eines Überlebensvorteils willen „Mimikry“. Die Psychologie hat den Begriff übertragen auf die Nachahmung von Mimik, Gestik und Verhaltensmustern um sozialer Beziehungsvorteile willen. Vor einer Mimikry christlichen Denkens und Lebens warnt Paulus: „Gleicht euch nicht dieser Welt an!“ (Röm 12, 2).

Eine klügere Reaktion auf die Abkehr vom Christentum wäre: Unerschrocken in Würde zu schrumpfen, weil uns biblisch ohnehin keine durchchristianisierte „Volkskirchen“-Gesellschaft verheißen ist; das geistliche und moralische Proprium bewahren und nicht jede Mode beflissen mitmachen; doch einladend, dialog- und lernbereit bleiben, auch weil von außen schon früher manche zunächst als „antikirchlich“ wahrgenommenen Impulse kamen, die letztlich zu einer Reinigung der Kirche, zur Justierung ihres Selbstverständnisses und ihrer Lehren beitrugen. Wer die „iusta autonomia“ der Kultursachbereiche mit dem Konzil anerkennt, muss bereit sein, den (Human-) Wissenschaften nicht nur lehrend, sondern auch lernend zu begegnen.

Püttmann weist darauf hin, dass Papst Benedikt XVI. für seine 2012 in Freiburg formulierte Forderung nach einer „entweltlichten Kirche“ von liberal-katholischer Seite in Deutschland heftig kritisiert wurde. Die Versuche, seine Rede in die Schablone des „Rückzugs aus der Welt“ und ins Klischee eines Sakristeichristentums zu pressen, waren einfältig und ungerecht. Ihre Betreiber schienen überfordert durch die Dialektik des Intellektuellen Joseph Ratzinger: Eine Kirche, die „sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam wird und sich den Maßstäben der Welt angleicht“, verstößt für ihn gegen den Auftrag Christi, „die Welt mit dem Wort Gottes zu durchdringen“ und zugleich „nicht von der Welt zu sein, ‚wie auch ich nicht von der Welt bin‘ (Joh 17,16)“.

Distanz und Durchdringung – das brachten die Kritiker nicht zusammen, obwohl der Papst es erklärte: „Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. … Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11)“. Das klingt fast nach einer protestantisch-individualistischen Frömmigkeit.

Der deutsche Papst setzte noch eins drauf: „Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben. Die Säkularisierungen, sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches, bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich ja dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt“ – das liest sich wie eine Vorschau auf Papst Franziskus.

Der Papst thematisierte also die Säkularisierung positiv als Chance, ermunterte zur Weltoffenheit, geißelte Klerikerversagen, Selbstgenügsamkeit, Reichtum und institutionelle Machtansprüche der Kirche und wollte Menschen durch die Innerlichkeit ihrer Gottesbeziehung mehr „zu sich selbst“ als bloß in ein kirchliches Normengefüge hineinfinden lassen. Hätte diese Diktion liberale, reformorientierte Christen nicht frohlocken lassen und Konservative, denen es sehr um die Beachtung der Konvention und die Geltung der Institution Kirche zu gehen scheint, verstören müssen?

Meine Damen und Herren,

die zitierten Analysen von Andreas Püttmann, können auch der Evangelischen Kirche bei Selbstbesinnung und Neuorientierung helfen. Und auch bei der Frage, wie wir Luther in unserer Kirche lebendig halten. Denn in der heutigen evangelischen Kirche sucht Luther seinen Platz. Gerade aber weil er lebt, sollten wir ihn nicht auf einen Denkmalsockel stellen, sondern gemeinsam mit ihm arbeiten: An einer besseren Welt, die Freiheit und Verantwortung in ihrer Verbundenheit ins Zentrum stellt. Unstrittig ist, dass Luther mit seiner Theologie und der Wechselwirkung seines Wollens mit den großen Kräften seiner Zeit auch ein „Faktor der Hervorbringung des modernen Bewusstseins“ gewesen ist, wie es der SPD-nahe Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einst formuliert hat. Doch Martin Luther fehlt heute öffentliches Gesicht und Gewicht. Die evangelische Kirche ist sich seiner nicht sicher und sucht immer wieder gerne Ersatz-Luthers: Frau Käßmann, Heinrich Böll, Willy Brandt oder den Dalai Lama. Gerne nutzt man dazu die Kirchentage. Von einem Luther-Kirchentag hat man noch nie etwas gehört.

Deshalb bedürfen Luthers Person, ihre Wirkung sowie die historischen Orte seines Handelns neuer Bewusstseinsschärfung in Deutschland und weltweit. Dies sollte das Anliegen von uns evangelischen Christen sein, als Multiplikatoren für einen Glauben, der nicht einfach nachplappert, sondern selbst erkennt durch den Einsatz von Vernunft und Herz, dass wir Gottes Kinder sind, die einen Auftrag haben.

Die Welt Luthers öffnet Freiräume zum Gestalten. Daraus haben viele evangelische Christen gelernt. Sie waren an der friedlichen Revolution in der DDR beteiligt. Der evangelische Glaube regt zum Mitmachen, zum Verbessern an. Christen sind, dass zeigen viele demoskopische Analysen, tendenziell die deutlich Aktiveren in Staat und Gesellschaft. Engagement im Ehrenamt wäre ohne die vielen Christen, die nicht nur hier in der Gemeinde, sondern auch in Parteien, Hilfsorganisationen, Vereinen oder Stiftungen mitwirken, nicht denkbar.

Die evangelische Welt ist auch deshalb machtvoll, weil sie kein Machtzentrum unterhält. Die Macht sind Wort, Vernunft und Herz, noch dazu, wenn diese von Luthers Theologie aufgeladen werden.

Mit dieser Überzeugung, mit diesem Glauben, können wir evangelischen Christen in die Herausforderungen unserer Zeit gehen, und das nicht pietistisch-griesgrämig, sondern lutherisch optimistisch. Fröhlich soll unser Herze springen – dann packen wir an. Die Herausforderungen sind gewaltig: Überall auf der Welt werden Christen unterdrückt. In unserem Land sind wir Christen in der Minderheit. Es gibt, ob wir es wollen oder nicht, eine Auseinandersetzung, ich sage nicht, einen Kampf, aber eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam.

All das sollte zu einer anderen Mentalität in unserer Kirche und in ihren jeweiligen Leitungen führen. Die Kirche der Reformation bedarf einer Reformation an Haupt und Gliedern – sonst ist sie nicht mehr zukunftsfähig und schafft sich selbst ab.

Funktionäre, die sich selbstgefällig Posten im Rat der EKD und den Synoden zuschieben, Kirchenleitungen, die den Mut und Kampfeswille verloren haben, um in Sinne Luthers kraftvoll Position zu beziehen, Gläubige, die kleingläubig geworden sind – das ist leider vielfach Realität.

Das muss nicht sein. Hier stehen wir und können nicht anders: Warum lassen wir Protestanten es uns gefallen, dass der Reformationstag kein Feiertag ist? Dass wir mehr katholische Feiertage als evangelische haben? Warum hat die Kirche im Jahr des Reformationsjubiläums keine Volksinitiative gestartet, um den Reformationstag als dauerhaften Feiertag bundesweit durchzusetzen? Luther hätte schon längst im Bundestag dazu gesprochen. Warum lassen wir es zu, dass der Religionsunterricht in den Schulen immer weiter relativiert wird?

Und warum muss es in unseren Kirchen im Winter eigentlich immer so kalt sein? Es wirkt so, als wolle man die Gläubigen zu Hause halten.

Die Welt hat sich verändert. Der öffentlich-rechtliche privilegierte Status unserer Kirchen hat uns müde und selbstgefällig gemacht. Wir in den Kirchen müssen endlich unsere Rolle neu definieren. Wir sind inzwischen Minderheit im Lande Luthers. Aber ich kann Sie beruhigen: Wir sind zwar eine Minderheit, aber keine verschwindende, sondern eine starke Minderheit.

Aber eines ist wichtig: Aus dieser Position heraus muss Kirche anders reden und handeln – eben anders als wir es als große „Volkskirche“ gewohnt waren. Dass bezieht sich auch auf die bereits erwähnten Analysen von Püttmann und die Aussagen des früheren Papstes Benedikt. Strategien müssen entwickelt werden, Kindergottesdienst, Religionsunterricht für die Jüngeren müssen geändert werden. Gottesdienste anders und für unterschiedliche Zielgruppen gestaltet werden. Die Präsenz im öffentlichen Raum muss anders, unkonventioneller, kreativer betrieben werden.

Und wissen Sie was, dafür brauchen wir einen Reformator. In Hannover im Kirchenamt der EKD sucht man ihn gerade, man verläuft sich dabei allerdings in Parteizentralen und im üblichen Standardverfahren. Schade, denn der Reformator für unsere in die Jahre gekommene Kirche stünde mit Rat und Tat bereit. Es ist Martin Luther. Und wir müssten ihm nur wieder zuhören.

Und dann gibt es noch uns Christen selbst: Denn die Aufgabe zur Veränderung ist zu groß, als dass sie die Kirche allein bewältigen könnte. Es wäre auch ein unlutherisches Verständnis von Verantwortung, diese Aufgabe nur dem offiziellen Bodenpersonal Gottes zu überlassen. Gefragt sind wir alle. Und wir alle können wirken. Das macht die Stärke unserer evangelischen Kirche aus, nämlich die Freiheit zum Handeln, auch zum unternehmerischen Handeln, und dabei verantwortlich mit unseren Talenten umzugehen, diese einzusetzen und sogar zu vermehren. Das zeigt übrigens auch unsere heutige Preisträgerin Nicola Leibinger-Kammüller. Sie ist der Prototyp des protestantischen Unternehmers, der neben seiner schöpferischen Kraft zur Gestaltung und Innovation auch die soziale Verantwortung im Blick hat. Ganz besonders freue ich mich deshalb, dass Prof. Dr. Renate Köcher als Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach unsere Preisträgerin würdigen wird.

Ihnen allen aber zunächst herzlichen Dank für die Gelegenheit, heute hier zu Ihnen sprechen zu können.

Dr. Michael J. Inacker, Vortrag vor der Internationalen Martin Luther Stiftung, 22. Oktober 2017

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Montag 9. April 2018 um 13:07 und abgelegt unter Kirche, Theologie.