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Die große Täuschung

Mittwoch 14. März 2018 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

Die Menschheit verbrachte die allermeiste Zeit in großem Elend. Bis auf eine recht winzige Elite lebten alle Menschen fast immer am Rande des Existenzminimums, wie wir heute sagen würden. Die ständige lebensbedrohliche Knappheit an den Mitteln der Lebenserhaltung ließ sich am einfachsten durch die Anwendung von Gewalt lösen, zu der die Skrupelloseren auch zu oft griffen: Ausbeutung und Versklavung, Raub und Plünderung, Krieg und Eroberung waren die Folge. In manchen Gegenden entstanden Machtzentren, die wir heute Hochkulturen nennen. Sie waren durch Unterdrückung nach innen und Kriegsbereitschaft nach außen gekennzeichnet. Leben auch in solch einer fortschrittlichen Kultur bedeutete meist, sein Dasein in einem despotischen Regime zu fristen. Zwangsarbeit und Rechtlosigkeit hielten die Masse der Menschen unter der Knute der wenigen Mächtigen.

In Europa kamen bei Griechen und Römern erste Formen der rechtlichen Beschränkung der Staatsgewalt auf. Doch man mache sich nichts vor: Selbst die so human erscheinenden Athener schlossen 80% der Bevölkerung (Frauen, Unfreie) von den meisten Rechten aus – die heute so geachtete griechische Demokratie beruhte auf Sklavenarbeit.

Auch in Rom war man keineswegs menschenfreundlicher gesinnt. Der Sucht nach eigenem Ruhm opferte Julius Caesar insgesamt wohl Millionen von Galliern. Zur Festigung der Macht kreuzigten die Römer schon mal Tausende Sklaven wie an der Via Appia nach der Unterdrückung des Spartacus-Aufstands. Über die Jahrhunderte hinweg ließen Hunderttausende im Sand des Kolosseums in Rom ihr Leben, um die Stadtbevölkerung zu belustigen. Die nun bei Touristen so beliebte Ruine ist der Ort oder Punkt der Welt, an dem die meisten Menschen durch andere Menschen umkamen. Ein Denkmal für unsere Gier nach Blut, Jahrtausende vor den Gaskammern von Auschwitz.

Ein schauriges Ausmaß von Gewalt und Elend kennzeichnete fast die gesamte Menschheitsgeschichte. Bis vor ein paar Jahrhunderten waren die Zähmung der Natur und die Zähmung der menschlichen Gewalt nicht sehr weit fortgeschritten. Wehe dem, der sich – aus welcher Verblendung auch immer – in die ferne oder gar nicht so ferne Vergangenheit zurück wünscht und in ihr als einfacher Mensch leben wollte!

Die Bibel bekräftigt solch eine nüchterne Sicht des menschlichen Daseins. Es ist natürlich kein Zufall, dass die erste Geschichte nach dem Sündenfall von einem Mord handelt, einem Totschlag in der Familie noch dazu. Keinerlei Beschönigung. Im weiteren Verlauf des Alten Testaments mangelt es nicht an Grausamkeiten und vielfältigen Illustrationen menschlicher Bosheit und Verschlagenheit, die Helden Israels nicht ausgenommen. Hinzu kamen die Unwägbarkeiten der Natur wie Hungersnöte.

Ist der Mensch gut oder böse? Bis vor nicht allzu langer Zeit wäre allein diese Frage jedermann lächerlich vorgekommen. Niemand bezweifelte ernsthaft, dass Menschen oft zu den schrecklichsten Untaten bereit sind. Schließlich war das Leben ein rauer, mitunter erbarmungsloser Überlebenskampf. Juden und Christen hatten für all das immer eine gute Erklärung: der tiefe Fall der Menschheit, geschildert in Genesis 3.

„Ein ganz furchtbares Menschenbild“ 

Noch der Heidelberger Katechismus aus dem Jahr 1563 bekräftigt in Frage 5, dass der Mensch von Natur aus geneigt ist, Gott und den Nächsten zu hassen. Der Mensch als solcher, nicht nur die ausgemachten Bösewichte, trägt diesen verdorbenen Kern in sich. Bei dieser harten Formulierung stutzt der heutige Leser, und über das „Elend“ – Hauptthema des ersten Teils des Katechismus – stolpert er sowieso. Man hat sich allgemein gewöhnt an Aussagen wie von Fr. Roger Schutz (1915–2005), dem Gründer der Taizé-Gemeinschaft: Für den Menschen sei nichts natürlicher, als zu lieben. Selbst unter den Evangelikalen hält eine Mehrheit den Menschen für im Kern gut. Das ist in jedem Fall gut fürs Poesiealbum, inzwischen sogar für Bestseller.
Vor zwei Jahren, im Herbst 2015, erschien Freischwimmer: Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr von Torsten Hebel. Der Ex-Evangelist und Leiter der blu:boks in Berlin verarbeitete darin seine Glaubenskrise, haut aber auch in dieselbe Kerbe wie Schutz und viele andere. Die Sünde des Menschen taucht nur noch in negativem Zusammenhang auf, betont werden Aussagen wie „So wie ich bin, bin ich gut“.

Auch im Interview mit jesus.de kritisierte Hebel die „Grundannahme, der Mensch sei schlecht und böse“ und erläuterte: „Es ist nicht gut, Menschen kleinzumachen. Im Gegenteil müssen wir sie aufwerten und ihnen sagen, wie wertvoll sie sind. Dabei ist das ja auch ein Kernanliegen des Christentums. Aber es wird viel zu selten betont.“

In den vergangenen beiden Jahren verbreitete Hebel seine Sicht über viele Medien wie im populären Podcast Hossa-Talk (#43) oder auch in der ERF-Fernsehsendung aus der Reihe „Gott sei Dank“ vom 8. Juli 2016. Kinder hätten laut Hebel ein Recht zu hören, dass sie „fehlerlos“ sind; dass ein Kind „so wie es ist, gut ist. Punkt.“ In der Sendereihe „Fenster zum Sonntag“ des ERF aus der Schweiz vom Herbst 2016 verwirft Hebel die Ansprache „Du bist schlecht, Mensch“ und dass wir für diese Bösartigkeit und Sünde die Hölle, die ewige Gottesferne, verdient hätten. Das sei ein „ganz furchtbares Menschenbild“. „Du bist ein begabter, wundervoller, schöner Mensch – so müssen wir miteinander reden!“

Diese Art der Aufwertung des Menschen bis hin zu seiner Vergöttlichung ist in der esoterischen Literatur vielfach zu finden. Bekannte Vorkämpfer eines liberalen Christentums wie Marcus J. Borg (1942–2015) und John Shelby Spong äußern sich ähnlich. Die Aufweichung der Sünde ist auch bei Brian McLaren, Spencer Burke, Tony Jones, Doug Pagitt und andere progressiven Christen ein wichtiges Thema.

Hebels Buch ist inzwischen nicht nur in der dritten Auflage erschienen. Im vergangenen Monat analysierte sogar ein Beitrag im Fachblatt „Theologische Beiträge“ Freischwimmer: „Christlicher Glaube im postmodern-pluralistischen Mindset. Eine Fallstudie mit kulturanthropologischen und theologischen Reflexionen“. Autor Jürgen Schuster ist Professor an den Internationalen Hochschule Liebenzell. Er bespricht das Buch sehr wohlwollend, auch wenn er gegen Ende einige kritische Fragen zur Prägung durch die östlichen Religionen stellt. Dass Hebel immer noch einen christlichen Weg geht, wenn auch nun im postmodern-pluralistischen Mindset, wird dabei nicht angezweifelt.

Michael Diener, Präses des Gnadauer Verbandes und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen evangelischen Allianz, empfahl kurz vor Weihnachten auf Facebook Schusters Beitrag und nahm den Autor von Freischwimmer gleich in Schutz: „Was musste sich Torsten Hebel nicht alles an Urteilen und Schubladisierungen nach seinem ehrlichen Impuls gefallen lassen und wie vielen Menschen hat er mit seinen offenen Gedanken zugleich geholfen!“

Was ist da passiert? Wie kann es sein, dass so steile Aussagen wie „so wie ich bin, bin ich gut“, so wie wir sind, sind wir gut, die Jahrtausende lang offensichtlich falsch waren, nun auf einmal plausibel erscheinen? Wie kommt es, dass selbst angesehene christliche Leiter solch einem Paradigmenwechsel nicht widersprechen?

Die großen Tatsachen

In der Welt ist etwas passiert, vor allem in den letzten zweihundert Jahren. Die Welt ist heller geworden – und das in vielerlei Hinsicht.

Man betrachte nur die rohe Gewalt wie Mord und Totschlag. Wir sind schockiert, wenn wir in den Fernsehnachrichten von erschlagenen Joggerinnen hören. Dies sind traurige Einzelfälle, die genau deshalb von den Medien aufgegriffen werden. Noch im hohen Mittelalter lag die Mordrate auf unserem Kontinent zwischen 25 und 50 auf 100.000 Einwohner im Jahr; inzwischen liegt sie in verschiedenen west- und nordeuropäischen Ländern bei einem (!) Opfer. Die Mordrate hat sich also um das Zigfache reduziert.

Diese extrem hohen prozentualen Ausschläge zum Besseren begegnen uns nun häufig. Im Vergleich zum Jahr 1800 produzieren die Menschen heute siebzig Mal mehr Güter und Dienstleistungen. Sofort denkt man nun bei so einer Zahl an den ach so großen ökologischen Fußabdruck. Doch man übersehe nicht, dass sich dahinter der Sieg über das Elend der Armut in weiten Teilen der Erde versteckt. Materielle Armut wird auf breiter Front nur durch Wohlstand beseitigt, und dieser Reichtum drückt sich in Gütern aus, die produziert werden müssen. Wir brauchen nur die Augen aufzumachen, und so gut wie alles, was wir sehen, ist von Menschen hergestellt und erleichtert uns heute wie selbstverständlich den Alltag.

Selbst inflationsbereinigt sind die Einkommen im Weltmaßstab in dem genannten Zeitraum um das Dreißigfache (also nicht 30%, sondern 2900%!) gestiegen, in den OECD-Ländern meist sogar um das Hundertfache. Waren um 1800 etwa 90% der Weltbevölkerung nach heutigen Maßstäben extrem arm und 10% wohlhabend, so sind nun nur noch 10% sehr arm. Was für ein Wandel! Wurden dafür schon jemals bundesweite Dankgottesdienste organisiert? Warum eigentlich nicht?

Deirdre McCloskey und andere Wirtschaftshistoriker nennen diesen Wohlstandszuwachs „the Great Enrichment“. Es ist tatsächlich die Große Tatsache der Menschheitsgeschichte, die durch die übliche Konzentration des Fachs Geschichte auf die Mächtigen und Herrschenden allermeist aus dem Blick gerät.

Die Produktion nahm zu, so dass Hungersnöte aus Europa nach und nach verschwanden. Die letzten bedeutenden Massensterben wegen Nahrungsmangel gab es in England 1623, in Frankreich 1710, in Deutschland, Skandinavien und der Schweiz um 1770, in Irland in den 1840er Jahren, in Finnland noch um 1870. Im vergangenen Jahrhundert fielen dann nur noch in der Sowjetunion Millionen dem Hunger zu Opfer. Inzwischen ist der Hunger auch aus China so gut wie vollständig abgewandert. Die Versorgung mit Nahrung hat sich allgemein so gut verbessert, dass die Lebenserwartung besonders im 20. Jahrhundert gewaltig stieg, und auch das weltweit (auch in den armen afrikanischen Ländern ist sie heute fast überall höher als z.B. in Europa um 1900!).

Mehr Wohlstand macht mehr Bildung und bessere Ausbildung möglich. Noch um 1850 lag die Analphabetenquote der erwachsenen Bevölkerung weltweit bei etwa 90%. Heute hat sich auch dies Bild ins Gegenteil gewandelt: Nur noch etwa 10% der Erwachsenen der Erde sind Analphabeten. Und die Zahl sinkt weiter.

Eine letzte Erfolgsgeschichte oder Große Tatsache (so manch andere ließe sich noch nennen wie die weltweite Bannung der Sklaverei): Noch um 1800 steckten die Kanäle und Straßen, die durch eine Stadt wie Basel flossen, voller Abfälle und Fäkalien, so dass Typhus, Cholera und andere todbringende Krankheiten die Lebenserwartung niedrig hielten. Selbst in der Schweiz starb damals jedes zweite Kind, bevor es das fünfte Lebensjahr erreichte! Heute gehört die Stadt am Rhein zu den zehn Metropolen der Welt mit der höchsten Lebensqualität. Und selbst ein in einem sehr armen Land wie Burkina Faso, das auf dem Index der menschlichen Entwicklung einen der hinteren Plätze einnimmt, erreichen nun mehr als neun von zehn Kindern das fünfte Lebensjahr. – Die hohe Kindersterblichkeit, die über Jahrtausende wohl für die meisten menschlichen Toten verantwortlich und die vielleichte schlimmste Geisel der Menschheit war, ist in vielen Ländern so gut wie vollständig besiegt, in allen Ländern auf dem Rückzug.

Allgemeine Gnade

Trotz aller ernster Probleme und Herausforderungen, die bleiben: Es ist deutlich heller in der Welt geworden. Selbst das blutige 20. Jahrhundert kann nicht darüber hinweg täuschen (auch das angeblich friedlichere 19. Jhdt. war blutig genug; allein dem Taiping-Aufstand in China fielen 20 Millionen zum Opfer). Das Leben von Milliarden ist heute unvergleichlich besser, als noch um 1900 oder 1800, ganz zu schweigen von noch früheren Epochen. Nie ging es uns, uns allen, auch den noch Armen, so gut wie heute.

Wer das nicht wahrhaben will, sollte einfach Hans Roslings Waschmaschinenfilmanschauen, in dem der Schwede anschaulich darstellt, wie sehr diese Erfindung das Leben von Millionen Frauen erträglicher gemacht hat. Viele dieser neuen technischen Errungenschaften erreichen heute schon viele der Armen in der Welt.

Wie war das möglich? Sind die Menschen heller geworden? Sind sie in ihrem Wesen besser geworden? Hat sich die Menschheit in einer kollektiven Anstrengung aus dem Sumpf gezogen? Entdeckte man auf einmal das Gute und Göttliche in sich? Oder ist man kollektiv zur Vernunft gekommen? Ein Ausbruch von Kreativität? Gab es einen Masterplan zur Rettung der Menschheit aus Gewalt, Elend und Armut? Hatte jemand rechtzeitig die richtigen Millenniumsziele aufgestellt?

Nichts dergleichen ist geschehen. Die Menschen sind in die Freiheit hineingestolpert, vor allem in die politische und wirtschaftliche Freiheit.

Über einen langen Zeitraum wandelte sich die Agrarkultur, die oft mit einer Raubkultur einherging, zu einer Industrie-, Handels- und Dienstleistungskultur. Vor allem ab dem 19. Jahrhundert konnten wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt ihre Früchte entfalten; Industrialisierung und Globalisierung, freier Handel und freie Wirtschaft, kamen voll in Gang.

Voraussetzung war eine über einen langen Zeitraum sich entwickelnde Tradition der Zähmung der Herrschaft. Inseln der Freiheit waren in Europa entstanden, geschützt vom Recht. Auch die einfachen Menschen, vor allem die Bürger in den Städten, kamen mehr und mehr in den Genuss der Früchte ihrer Ideen und ihrer Arbeit. Die Tätigkeiten des einfach Arbeitenden und des Erfinders, des Händlers und Handwerkers, des Bürgers, erhielten eine Würde, die sie vorher kaum je hatten (s. dazu McCloskeys Bourgeois Dignity). Ab etwa 1600 setzten sich die beiden großen Prinzipien durch, die zuerst Europa zum Erfolg verhalfen: Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit der Würde aller Menschen, d.h. konkret auch ihrer Arbeit und Beschäftigung.

Das aufstrebende Bürgertum erhielt wirtschaftlich wie politisch Luft zum atmen. Nicht einen Despoten herrschen lassen, sondern die Machthaber kontrollieren und sie verantwortlich machen – das macht die Menschen nicht besser, aber das macht politische Herrschaft besser. Sich nicht gegenseitig ausbeuten und ausrauben, sondern füreinander arbeiten – das macht die Menschen nicht besser, doch es schafft mehr Wohlstand. Der Bäcker, der uns gute Brote backt, ist in seinem Herzen vielleicht keinen Deut weniger gierig als der Dieb. Aber das System des freien Marktes, zu dem alle Zutritt haben, funktioniert einfach besser, macht alle zufriedener.

Hans Albert nannte die „Idee der Freiheit“ den grundlegenden Beitrag Europas für die Entwicklung unserer Zivilisation. Freiheit für alle.

Freiheit für alle setzte sich – wenn auch langsam – durch, weil sie der menschlichen Unwissenheit am besten gerecht wird. Karl Popper und vor allem Friedrich August von Hayek wiesen im vergangenen Jahrhundert auf diesen entscheidenden Zusammenhang hin. „Wenn es allwissende Menschen gäbe,… gäbe es wenig zugunsten der Freiheit zu sagen“, so Hayek in Die Verfassung der Freiheit (1960). Wir brauchen Freiheit, weil wir alle als Einzelne mehr oder weniger unwissend sind. „Freiheit ist wesentlich, um Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare zu lassen… Weil jeder Einzelne so wenig weiß, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiß, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen, wenn wir sie sehen.“ Eine Gesellschaft von freien, nicht direkt gelenkten Menschen „kann von weit mehr Kenntnissen Gebrauch machen, als die Vernunft des weisesten Herrschers erfassen könnte.“

Die griechische Tradition – man denke an die Philosophenkönige, von denen Platon träumte – setzte alle Hoffnung auf die Herrschaft der wenigen Weisen. Christen wissen, warum sich selbst dieser Weg als trügerisch erwies. Auch ein Salomo war ein Sünder, den seine Fehltritte zu Fall brachten – mit fatalen Folgen. Selbst die Besten, Klügsten und Vortrefflichsten neigen zum Bösen. „Fortschritt und die Erhaltung unserer Zivilisation“ hängt, so Hayek, von der Möglichkeit ab, dass viele Zufälle geschehen können. Und in diese Zivilisation der Freiheit gelangte man zuerst in Europa ebenfalls durch Zufall.

In einem langen und schmerzhaften Prozess bildeten sich in Europa Institutionen, Traditionen und eine Kultur, die Freiheit und Moral förderten (wie Freiheit und Unwissenheit in direktem Zusammenhang stehen, so gewiss auch Freiheit und Moral). Christliche Überzeugungen haben in diesem Prozess viel Einfluss genommen. Aber auch Christen haben diese Kultur nicht auf dem Reißbrett geplant.

Nach und nach haben die moderne Demokratie und unsere freie Wirtschaft die Sitten milder gemacht und zivilisiert wie schon Alexis de Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika (1840) und der Baron de Montesquieu im Jahrhundert zuvor feststellten. Mit den Mitbürgern und vor allem mit Kunden und Handelspartnern geht man tendenziell anständig um, weil man auf sie angewiesen und an einem guten Miteinander interessiert ist. Banal gesagt: Kaufen wurde billiger, d.h. viel einfacher, als stehlen. Und provokant: Der Kapitalismus schafft soziale Wärme und lässt Tugenden gedeihen. Der freie Markt fördert tatsächlich freie Solidarität, Mitgefühl, Sympathie und Menschenliebe (s. dazu McCloskeys Bourgeois Virtues). Ich stehe heute lieber neben anderen friedlich an der Supermarktkasse und lasse mich freundlich bedienen, als in das raue Getümmel eines Marktes zu Luther Zeiten einzutauchen.

Wenn wir reich werden wollen, kommt uns heute kaum noch in den Sinn, den Nachbarstamm zu überfallen und ein fremdes Volk zu versklaven. Zum Glück kommt nur noch eine kleine Minderheit auf die Idee, deutsche Wohnungen auszurauben. Wer wirklich sehr reich werden will, der muss sich schon etwas einfallen lassen und ein gutes, neuartiges Produkt auf den Markt bringen. Elon Musk (Tesla), Steve Jobs (Apple) und Jeff Bezos (Amazon) haben es so nach ganz oben geschafft. Aber sie sind keine besseren Menschen als Alexander der Große, Karl der Große oder Peter der Große, die alle vor Blutbädern nicht zurückschreckten. Sie sind (bzw. waren) wenig sympathische Zeitgenossen, und das ist noch milde ausgedrückt. Sie sind in ihrem Herzen nicht gut; sie wirken aber in einer Kultur, in der ihre Gier auch noch Gutes schafft. Sie sind auch Große, aber Gott sei Dank war dafür (soweit wir das wissen) kein Morden mehr nötig.

Wir sind tief in unserem Herzen kein Stück besser als die Menschen früherer Jahrhunderte. Je tiefer wir in unserer Seele hinabsteigen, desto dunkler wird es.  Dominanz, Gier und Rache treiben uns dort oft an. Damals wie heute. Vor allem in Kriegen wird die Firnis unserer Zivilisation schnell beseitigt, und all das abgrundtief Dunkle kommt schnell wieder zum Vorschein – und aus den Beethovenfans und Bildungsbürgern werden plötzlich mordende SS-Männer. Weil auch der moderne Mensch immer noch zu Hass neigt. Gott sei Dank hindern die zivilisatorischen Errungenschaften, also unsere Kultur, meistens daran, diesen Drang auszuleben.

Wo lagen die Wurzeln von „the Great Enrichment“? Wo wurden wichtige Weichen Richtung Freiheit gestellt? Vor allem auch in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Dort hing man damals der Lehre von der „völligen Verderbtheit“ des Menschen an. Die Dordrechter Lehrregel (1619) schrieb  diese reformatorische Überzeugung noch einmal fest. Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass ein nüchternes Menschenbild gar nicht bedeutet, Kreativität und Freiheit geringzuschätzen oder die Menschen kleinzumachen. Im Gegenteil: Wer um die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen weiß, der ist eben eher geneigt, nach Systemen und Institutionen zu suchen und sie zu bewahren, die dieses Böse in uns in Schach halten. Der wird sich gegen Alleinherrschaft in Staat und Kirche einsetzen, für plurale Leitung und Gleichheit.

Die Europäer waren (und sind) nicht besser als andere Menschen. Aber hier entstand zuerst eine segensreiche Pluralität der Macht – Konkurrenz zwischen Kaiser und Kirche, zwischen Königen und Adel, zwischen Städten und fürstlichen Herrschaften, seit der Reformation auch unter Kirchen. Der christliche Glaube hatte an dieser Entwicklung kräftigen Anteil. Gott hat uns in seiner Güte und aus Gnaden ein Anreiz- und Kontrollsystem, Funktionsweisen und allgemein gesprochen eine Kultur entwickeln und entdecken lassen. Es ist nicht dem Genius oder der Gutheit der Menschen zu verdanken, dass wir heute so gut leben – es ist Gottes „allgemeine Gnade“.

Die „besondere Gnade“ führt einige Menschen zum Heil. Es ist die rettende Gnade, um der es in der Bibel meist geht, wenn von Gnade die Rede ist. An zahlreichen Stellen wird aber auch klar ausgesagt, dass Gott der ganzen Schöpfung und allen Menschen seine Güte zeigt. Ps 145,9: „Der HERR ist allen gütig und erbarmt sich aller seiner Werke“. In Apg 14,17 heißt es: Gott hat „sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, hat euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt“. Hier ist von einer unverdienten Güte Gottes die Rede, die aber nicht zur Erlösung, d.h. zu ewigen Heil, führt.

Ein wichtiger Aspekt der allgemeinen Gnade ist das Einschränken und Begrenzen von Sünde und ihrer Folgen. Auch dem Teufel werden Grenzen gesetzt. Die Sünde steht allgemein unter der souveränen Kontrolle Gottes, und dies ist sicher eine unverdiente Gnade. An dieser Stelle ist auch die staatliche Gewalt als ein gewisses Gnadenwerkzeug zu nennen. Denn sie hat die Aufgabe gegen das Böse vorzugehen, so dass auch Christen in Frieden leben und die Kirche ihre Aufgabe tun kann.

Neben einer staatlichen Ordnung, die das Böse einschränkt, aber doch viele Freiräume gewährt und schützt, ist eine wirtschaftliche Ordnung der Freiheit ein wichtiger Aspekt der allgemeinen Gnade. Die ungeheuer weit ausgedehnten Möglichkeiten des Tausches (Stichwort Globalisierung), das große überindividuelle System der Kooperation, das zu dem nie gesehenen Wohlstandszuwachs der letzten beiden Jahrhunderte geführt hat und all die damit verbundenen Segnungen (s.o.) – zeigt sich darin nicht auf wunderbare Weise die Güte Gottes? Ist dies nicht die wichtigste Gabe der allgemeinen Gnade Gottes, für die in Kirchen – es sei nochmals gefragt – oft gedankt werden müsste?

„Die Liebe Gottes ist endlos, unfassbar weit“

Es ist für jeden offensichtlich heller in der Welt, aber nicht weil es in uns heller geworden wäre. Es ist Gottes Gnade. Töricht wie der Mensch war und ist, bringt er aber alles durcheinander und meint, dass es in ihm lichter sei: Du bist gut, fehlerlos. Du hast Gott in dir und bist in Gott und irgendwie göttlich. Du bist gut, und das System ist schlecht.

„Entdecke das Göttliche in dir…“, so Heinrich Christian Rust zu Hebel in Freischwimmer. Der Zusatz „…ohne gleich Buddhist zu werden“ macht die Sache aber nicht besser. Ganz dem Rat des Baptistenpastors folgend schreibt Hebel später im Buch: „Auf der Suche nach Gott bin ich bei mir gelandet.“ Gewiss hängen Gottes- und Selbsterkenntnis eng zusammen (s. die ersten Seiten in Calvins Institutio), doch dies bedeutet nun ja nicht, dass Gott und Mensch in eins zu setzen wären. Und genau diese Vermischung geschieht bei Hebel. „Denn wenn Gott in und mit mir ‘Ich bin, der ich bin’ [Gottes Selbstvorstellung in Ex 3,14] atmet, dann bin ich der, der er ist. So wie ich bin, bin ich gut.“

Ich bin in Gott, wie Gott, ich bin Gott („dann bin ich der, der er ist“!), und da Gott gut ist, bin ich auch gut. Im Interview mit dem ERF-Schweiz fügt Hebel noch hinzu: „Und zwar gilt das für jeden Menschen. Für jeden Menschen. Wir müssen uns nur dessen bewusst werden.“ Der Mensch hat, laut Hebel, also ein Erkenntnisproblem, kein moralisches Problem. Er ist gut, muss die Gutheit nur zur Entfaltung bringen.

Tief gefallen ist dagegen in den Augen aller Linksorientierten und theologischen Neuerer das „System“. „Everything must change“, so ein Buchtitel von Brian McLaren (dt. Höchste Zeit umzudenken), alles in der Welt, in ihren Ablaufmechanismen, müsse sich ändern. Wohlgemerkt alles. Denn „Wohlstandssystem“, „Sicherheitssystem“ und „Verteilungssytem“ belegt er mit dem Begriff „selbstmörderisch“ („suicidal system“). Wir werden von einer Selbstmordmaschine zermalmt. Das, was den Erfolg unserer Zivilisation ausmacht, solle überwunden werden. Was Licht ist, nennt McLaren Schatten; was Gnade ist, wird geradezu dämonisiert. Heftiger geht’s nicht. Der Autor McLaren und viele andere seiner Gesinnungsgenossen sind wahrlich blind für die Tatsachen. Ihre törichten Ausführungen bekräftigen nur, dass wir auch mit dem Denken tief gefallen sind. Und wohin es führt, wenn von der biblisch-reformatorischen Anthropologie Abschied genommen wird.

Das Böse sitzt vor allem da draußen, im bösen System; und in uns sitzt das Gute. Das ist die große Täuschung. Wir machen uns, uns alle, auch die Unerlösten, heute heller und die Welt, all die Phänomene von Gottes Gnade, dunkler.

Wir baden tatsächlich gleichsam in Gottes endloser Liebe (Hebels Metapher, die Freischwimmer zugrunde liegt), aber ganz und gar nicht in einem mystischen, pantheistischen Sinn. Abschließend sei hier auf Friedrich August von Hayeks Recht, Gesetz und Freiheit hingewiesen. Dort greift er für unsere ausgedehnte Ordnung der menschlichen Kooperation (ein Aspekt von McLarens „Selbstmordmaschine“!) den Begriff „Katallaktik“ oder „Katallaxie“ (engl. „catallaxy“) auf. Dieser Ausdruck „leitet sich vom griechischen Verbum katallattein (oder katallassein) her, das bezeichnenderweise nicht nur ‘tauschen’ bedeutet, sondern auch ‘in die Gemeinschaft aufnehmen’, und ‘aus einem Feind einen Freund machen’. Daraus wurde das Adjektiv ‘katallaktisch’ abgeleitet… Eine Katallaxie ist also die besondere Art spontaner Ordnung, die vom Markt erzeugt wird, wenn sich die Leute an die Regeln des Eigentums-, Haftungs- und Vertragsrechts halten.“

Das genannte Verb findet sich auch im Neuen Testament und bedeutet auch dort „versöhnt werden“ (Röm 5,10; 2 Kor 5,18–19). Dort ist natürlich die Versöhnung der früheren Feinde Gottes, der Menschen, mit diesem gemeint. Gott in seiner Gnade schenkt seinen Feinden Gnade, stiftet Frieden. Im Bereich der allgemeinen Gnade ist die Frucht der Liebe ebenfalls Versöhnung, Eintracht, Freundschaft. Die Katallaxie kann daher auch eine erweiterte Ordnung der Liebe genannt werden. In dieser „Aus Feind mach Freund“-Ordnung baden wir, wir alle! Wir haben sie Gott zu verdanken, aber sie ist nicht Gott.

In der „Fenster zum Sonntag“-Sendung des ERF beschreibt Hebel seinen Dienst als ‘klassischer’ Evangelist, gefangen in Klischeebildern von Himmel und Hölle. „Dann habe ich angefangen nachzudenken.“ Und ein Prozess der Glaubenskrise, aber auch des Freischwimmens begann. Man kann nur hoffen, dass Hebel noch einmal anfängt nachzudenken. Doch der Erfolg seines Buches wird ihn dazu wohl nicht anspornen.

Holger Lahayne, www.lahayne.lt (21.1.2018)

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 14. März 2018 um 9:23 und abgelegt unter Gemeinde, Theologie.