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Die Anfangsphase der Reformation in Reutlingen – ein diplomatisches Meisterstück

Dienstag 10. Oktober 2017 von Prof. Dr. Dr. Eugen Wendler


Prof. Dr. Dr. Eugen Wendler

Es erscheint merkwürdig, dass ausgerechnet die in territorialer Hinsicht relativ kleine, abgelegene und nicht sehr wohlhabende Freie Reichsstadt Reutlingen zur Speerspitze der Reformation in Süddeutschland wurde. Man kann dies mit einem Kampf David gegen Goliath vergleichen. Um diese mutige Pioniertat zu verstehen, muss man den historischen Kontext betrachten. Dabei sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben: zum einen die demokratisch-zünftische Tradition der Stadtrepublik und zum anderen die damaligen aktuellen weltpolitischen Ereignisse in Verbindung mit den lokalen Gegebenheiten.

Die demokratische Verfassung

Bei dem ersten Aspekt ist daran zu erinnern, dass Reutlingen seit 1374 eine eigene Verfassung hatte, nach der in einem komplizierten Wahlverfahren jedes Jahr Anfang Juli die wahlberechtigten Männer, allesamt Zunftmitglieder, rund 175 Mandatsträger wählten. Diese Tradition hat auch dazu geführt, dass sich die Bürgerschaft bei einer Versammlung auf dem Marktplatz im Frühjahr 1524 mehrheitlich für die neue Glaubenslehrte ausgesprochen und dies durch einen Markteid bekräftigt hat. Die Entscheidung für die neue Lehre war also ein demokratisch legitimierter und nicht etwa von einem Fürsten auferlegter Vorgang.

Die volle Souveränität als Freie Reichsstadt

Der zweite Aspekt hängt mit den weltpolitischen Ereignissen und der spezifischen Situation Reutlingens zusammen: Im Februar 1492 wurde die letzte maurische Bastion in Spanien, das Kalifat Granada, von den spanischen Königen, Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, erobert. Bereits am 31. März 1492 verfügten die spanischen Könige die Ausweisung der Juden, nachdem die Inquisition schon lange vorher eingesetzt hatte, und im August 1492 ernannten die beiden Könige, Christoph Columbus zum Großadmiral und Vizekönig der zu entdeckenden Länder. Der berühmte spanische Historiker Salvador de Madariaga stellte die These auf, dass auch der Entdecker der Neuen Welt, Sepharde d.h. spanischer Jude gewesen sein muss. Nur so seien seine übersteigerten Forderungen und deren Bewilligung zu erklären, um ihn vor der Ausweisung zu schützen. Als er nach der vierten Entdeckungsreise nach Spaniern zurückkehrte, habe ihn die Vergangenheit eingeholt, indem er wie ein Sträfling in Ketten gelegt und in ein Kloster eingesperrt worden sei.

Um die gleiche Zeit, nämlich vom 26.-28. Mai 1495 hat Kaiser Maximilian mit einem Gefolge von 500 Reitern zum ersten Mal Reutlingen besucht. Dabei wurde er von der Stadt mit 1 100 Golddukaten, 100 Stück Fisch, 60 Sack Hafer, 9 Eimer Wein und 2 gemästeten Ochsen fürstlich beschenkt. Diese Gabe diente als Köder, um dem Kaiser drei Zugeständnisse abzuringen: 1. Die Übertragung der mit der Achalm verbundenen Rechte des Hauses Württemberg an die Stadt, was dann durch die Vermittlung des Kaisers gegen eine Ablösesumme von 12 000 Gulden zustande kam. 2. Die Ausweisung der Juden aus Reutlingen, eine Forderung, die sicher eine Folge der Entscheidung der spanischen Könige war. Auch dieses Begehren wurde vom Kaiser bewilligt und 3. Die Verleihung des kaiserlichen Privilegs, ein Totschlägerasyl zu begründen. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurden solche Asyle eingerichtet, weil man bei einer nicht vorsätzlich begangenen Tötung die Selbstjustiz von Familienangehörigen bzw. Clanmitgliedern verhindern wollte. Auch dazu war der Kaiser bereit.

Erst mit der Einräumung dieser Rechte hat Reutlingen in vollem Umfang die Souveränität einer Freien Reichsstadt erhalten. Dies muss bei der Bürgerschaft eine enorme Stärkung ihres Selbstwertgefühles zur Folge gehabt haben. In Verbindung mit der demokratischen Tradition ist daraus sicher der Mut entstanden, sich als erste süddeutsche Stadt zur neuen Glaubenslehre zu bekennen; – denn nur so wird erklärlich, warum ausgerechnet Reutlingen zur Speerspitze der Reformation in Süddeutschland wurde.

Die Anfangsphase der Reformation

Matthäus Alber, Bronzerelief an einem Privathaus in Reutlingen

Die beiden führenden Reformatoren in Reutlingen waren Matthäus Alber (1495-1570) und Johannes Schradin (um 1500 bis 1560/61). Alber, der von Gottfried W. Locher, als der „Luther Schwabens“ bezeichnet wird, begann das Studium der Theologie an der Universität Tübingen, an der damals Philipp Melanchthon lehrte. Über ihn wurde Alber sehr früh mit Luthers Glaubenslehre bekannt. Im Jahre 1521 kam er als Prädikator, d.h. erster Geistlicher an die Marienkirche seiner Vaterstadt und ab 1524 stellte man ihm als zweiten Geistlichen Johannes Schradin zur Seite. Schon recht früh muss Alber als kraftvoller Prediger weit über die Stadtgrenze hinaus bekannt geworden sein. Denn am 19.31523 wandte sich der Schweizer Reformator Ulrich Zwingli mit folgendem in lateinischer Sprach abgefassten Schreiben an ihn: „Gepriesen sei dein Mut! Sieh zu, dass Du ja nicht von dem eingeschlagenen Weg ablässt. Dies allein ist der Kampf, der Dir zur Ehre gereicht; er macht Dich bei Christus doch unendlich angenehm, auch wenn Du bei den Menschen möglicherweise in Ungnade fällst. Christus, welcher der Allerbeste ist, bewahre Dich unversehrt. Leb wohl! Du wirst gewiss Gott auch für mich bitten, dass ER unsere Schritte leiten wolle. Empfehle mich Deinen Brüdern im Glauben.“

Die Einführung des deutschsprachigen Ritus

Im Jahre 1522 hatte man in Basel und Pforzheim mit deutschsprachigen Messen begonnen. Kurz darauf folgten Nördlingen und Allstedt und in der Karwoche 1524 kamen Nürnberg und Reutlingen dazu. Als wesentliche Bestandteile der Liturgie ließ Matthäus Alber neben dem Gebet nur noch die Schriftlesung, die Predigt und das Gemeindelied gelten. Gleichzeitig wurde die Ohrenbeichte abgeschafft. Damit begann übrigens auch die von Luther angestoßene Komposition von geistlichen Liedern als Charakteristikum des Protestantismus.

Matthäus Alber, Gedenktafel in der Reutlinger Marienkirche

Unmittelbar darauf, als Alber die deutsche Predigt eingeführt hatte, kam es im Mai 1524 auf dem Marktplatz zu einer Bürgerversammlung, auf der die Bürger ihren Unmut über den Zustand des Klerus zum Ausdruck brachten und sich für die neue Glaubenslehre ausgesprochen haben. Mit dem gemeinsamen Schwur zwangen sie den Magistrat, sich für die neue Glaubenslehre einzusetzen. Dies war insofern eine äußerst mutige Entscheidung, als Reutlingen vollständig von Württemberg umgeben war. Nachdem Herzog Ulrich des Landes verwiesen wurde, regierte der habsburgische Erzherzog Ferdinand das Herzogtum. Somit musste die Bürgerschaft schwerwiegende Repressalien befürchten. Die Beschwerde des habsburgischen Herrschers wurde vom Rat der Stadt mit diplomatischem Geschick beantwortet, indem man vorgab, dass Alber nicht lutherisch sei, sondern den Befehl habe, „Gottes Wort zu verkündigen.“

Ähnlich geschickt taktierte Alber, als er ebenfalls 1524 als erster württembergischer Reformator den Zölibat brach und sich verheiratete. Deswegen wurde er vor das Reichskammergericht in Esslingen zitiert. Hierzu begleiteten ihn seine Reutlinger Gefolgsleute, die drei Tage bei ihm ausharrten. Alber bestand das Verhör in Esslingen mit Hilfe seiner Gelehrsamkeit und seines Humors glänzend, sodass das Urteil „verschoben“ wurde und er als freier Mann nach Reutlingen zurückkehren konnte. Am 16.11.1524 wandte sich Ulrich Zwingli erneut an Alber.

Nachdem Zwingli diesen Brief im März 1525 drucken ließ, erwartet man in Reutlingen eine Reaktion von Martin Luther. Da diese ausgeblieben war, schickte die Stadt Johannes Schradin Ende 1525 auf eine „Galgenreise“ nach Wittenberg, um Luther vor allem wegen der Gottesdienstordnung und in der Abendmahlsfrage zu einer Meinungsäußerung zu bewegen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 4.1.1525 verfasste der Reformator eine ausführliche Antwort an die lieben Christen zu Reutlingen, die von Schradin überbracht wurde. Darin zeigte sich Luther über die guten Nachrichten aus Reutlingen sehr erfreut, insbesondere, dass die Stadt von der Schwärmerei unberührt sei. Außerdem erklärte er sich mit der hier praktizierten Kultusform des Gottesdienstes vollkommen einverstanden. Damit waren die ersten schweren Klippen der Reformation in Reutlingen umschifft. Bei der zweiten Phase stand Bürgermeister Jos Weiß der Stadt hilfreich zur Seite, indem er geschickt auf den Reichstagen taktierte und die kleine Reutlinger Nussschale unbeschadet auf dem Ozean der Kirchen- und Weltpolitik hindurch steuerte, sodass sie allen Stürmen trotzte.

Prof. Dr. Dr. Eugen Wendler, Reutlingen

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 10. Oktober 2017 um 9:28 und abgelegt unter Allgemein, Kirche.