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Von der Not und der Kunst zu überzeugen

Mittwoch 10. August 2016 von Holger Lahayne


Holger Lahayne

Heutzutage jemandem direkt zu sagen, dass man eine vorgetragene Meinung für falsch hält, gilt weithin als intolerant. Daniel von Wachter nahm diese postmoderne Haltung jüngst in einem Interview unter die Lupe: „Es hat keinen Sinn, zu sagen: ‘Wenn jemand das anders sieht als ich, dann hat er ebenfalls recht.’ Das ist ein Widerspruch, es ist unvernünftig, so etwas zu sagen.“ Es ist „unlogisch, wenn ich etwas glaube und das Gegenteil auch für richtig halte.“ Der Philosoph warnt davor, Wahrheit und Logik gegen die Liebe auszuspielen, nach dem Motto: es sei liebevoll, Widersprüche „auszuhalten“; „damit ich mehr Liebe übe, darf ich niemandem mehr widersprechen“. Sicher soll man anderen seine Position nicht mit Gewalt aufzwingen, und man soll sich auch in Gemeinden nicht wegen jeder Meinungsverschiedenheit trennen. „Aber es ist töricht zu sagen: ‘Ich meine X, aber ich will nicht sagen, dass Nicht-X falsch wäre’.“ Von Wachter ist überzeugt, dass „es sogar liebevoller [ist], wenn ich versuche, ihn zu überzeugen, weil ich ja will, dass der andere auch die Wahrheit, also die richtige Auffassung erlangt.“

Aktuell ist all dies natürlich in besonderer Weise für die missionarische Tätigkeit der Christen und Kirchen. Bei Evangelisation und Mission geht es nun häufig nicht mehr um das Überzeugen, damit andere annehmen was wir glauben, sondern um bloßes Bezeugen; es geht nicht mehr um den Weg, sondern um meinen Weg, den persönlichen Weg; es geht um Dialog und Austausch, oft um einen gemeinsamen Weg aller Religionen.

„Nicht für unwahr erklären“

Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Religionen thematisierte im Mai Reformation und Islam: Ein Impulspapier der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Darin heißt es, die „fünf Kernpunkte“ der „zentralen Einsichten reformatorischer Theologie“ („solus Christus – allein Christus, sola gratia – allein aus Gnade, solo verbo – allein im Wort, sola scriptura – allein aufgrund der Schrift und sola fide – allein durch den Glauben“) können nicht „ohne Weiteres“ in die Gegenwart übernommen werden; sie bedürften vielmehr „einer neuen Aneignung und Übertragung“.

Es stelle sich vor allem „auch im Blick auf das solus Christus die Frage, wie die darin zum Ausdruck gebrachte Exklusivität Jesu Christi in einer religiös pluralen Gesellschaft so bekannt werden kann, dass sie im Dialog nicht als anmaßend oder überheblich wahrgenommen wird.“ Damit sind wir ganz beim Thema: Das Christentum verkündet Jesus als den einzigen Herrn und Retter. Ist das heute noch möglich oder schon zu überheblich?

Anschließend wird aus dem EKD-Text Rechtfertigung und Freiheit zitiert: „Die Herausforderung besteht darin, von Christus zu sprechen, aber so, dass dabei nicht der Glaube des anderen abgewertet oder für unwahr erklärt wird. So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gespräches anerkannt werden.“

Hier wird den Lesern zugemutet, die Quadratur des Kreises für möglich zu halten. Von Christus sei weiterhin zu sprechen, und damit ist doch gewiss der Christus der Bibel und der ökumenischen Glaubensbekenntnisse gemeint. Der Islam z.B., Thema der neuen EKD-Schrift, lehnt den Glauben der Christen an die zweite Person der Trinität, an den Gott Christus, eindeutig ab; und umgekehrt hält das Christentum das Jesusbild des Islam für völlig defizitär und damit falsch. Beide Darstellungen Jesu können nicht gleichzeitig wahr sein; aber trotzdem dürfen wir eine nichtchristliche Position nicht für unwahr halten und dies auch erklären? Wie soll das gehen? Ist das nicht, wie von Wachter oben meinte, töricht?

Es soll ein „ernsthafter interreligiöser Dialog“ geführt werden, „islamfeindlichen Tendenzen“ sei „mit aller Entschiedenheit zu widersprechen“; „gegenüber der weltweit praktizierten Religion des Islam ist Differenzierung geboten“. Alles richtig. Aber oft wird es eben auch sehr unkonkret: „Der von Gott gerechtfertigte Glaubende kann somit auch im Umgang mit Andersglaubenden gelassen sein, befreit von der ängstlichen Sorge, sich selbst, anderen oder Gott noch etwas beweisen zu müssen.“ Gewiss, beweisen im wahrsten Sinne des Wortes können wir (außerhalb der Logik und Mathematik) nichts; aber wie steht es um den Nachweis, dass der eigene Glaube tatsächlich wahr ist? Soll „Respekt und die Achtung vor anderen Glaubensgewissheiten und Glaubensweisen“ bedeuten, dass man auf das argumentierende Überzeugen Anderer ganz verzichtet?

Wahrheitsbindung?

Auch der Grundlagentext der EKD Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive aus dem vergangenen Jahr arbeitet sich an den „reformatorischen Leitworten ‘allein durch den Glauben’, ‘allein durch das Wort’, ‘allein die Schrift’“ ab. Diese seien „zwar auf Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit aus, sie sind aber mit einem Exklusivismus des alleinigen Wahrheitsbesitzes nicht zu verwechseln.“ Weiter heißt es:

„Die sogenannten ‘Exklusivpartikel’ zielen auf das Recht eigener Einsicht in Religionsangelegenheiten und halten daher alles fern, was auf Überwältigung und Verführung, auf Überredung und Zwang hinausläuft. Da sie die selbsteigene Einsicht der Glaubenden fordern und fördern, stellen sie nicht das Recht des anderen infrage, alles anders zu sehen und darum anderes zu glauben. Wie jedoch das Recht der Meinungsfreiheit seine Pointe verliert, wenn niemand mehr den Mut hat, eine eigene Meinung zu vertreten, so kommt es im Religionspluralismus auf die Freiheit an, eigene Glaubensüberzeugungen auch zu vertreten.“

Hier ist alles noch irgendwie im Lot. Überwältigung, Verführung, Überredung und Zwang sind sicher abzulehnen; Überzeugungen sollen vertreten werden. Natürlich haben nichtchristliche Mitbürger das Recht, Dinge anders zu sehen. Die Vielfalt der Religionen ist eine Tatsache. Die Religions- und Meinungsfreiheit trägt diesem Faktum Rechnung.

Ein paar Seiten später wird jedoch im Abschnitt „Wahrheitsbindung und Dialogfähigkeit“ ausgeführt, dass dem Glauben „nicht verheißen [ist], dass er in allem Recht behält. Er wäre im Dialog der Religionen und in der Wahrnehmung des religiösen Pluralismus inkompetent, wollte er seine Orientierung an der Wahrheitsfrage mit dem Besitz einer abgeschlossenen Wahrheitseinsicht verwechseln. Er müsste dann das letzte Wort behalten wollen, könnte nicht im Ernst hinhören, nicht gemeinsam mit anderen nach Wahrheit suchen und schon gar nicht den Beitrag zur Religionskultur einer pluralistischen Religionsgesellschaft leisten. […] Wer nur seiner eigenen Überzeugung Wahrheit zuweist, hat sich der Last der Wahrheitsfrage entledigt, aber auch die Chance verspielt, die religiöse Überzeugung des anderen als eine eigene Antwort auf Gottes Wirklichkeit ernst zu nehmen. Der Pluralismus fordert und fördert die Relativierung der eigenen Perspektive, aber er stärkt auch ein reflektiertes Selbstverständnis im Umgang mit der eigenen Tradition. Dieser Prozess ist mit einem Relativismus, der alle Wahrheitsfragen vergleichgültigt, nicht zu verwechseln. Eine Kultur des Pluralismus entwickelt sich mit dem Bewusstsein, dass es mehrere Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt, und darum mit der Kunst, Abweichungen, Alterität und nicht-integrierbare fremde Überzeugungen zu ertragen.“

Hier kommt der ‘normale’ Leser wohl endgültig durcheinander. Der Begriff Wahrheit wird oft eingestreut, ist also offensichtlich irgendwie wichtig. Die „Orientierung an der Wahrheitsfrage“ sei immer noch wichtig, Vergleichgültigung der Wahrheit falsch. Wahrheit steht nun aber definitionsgemäß im Gegensatz zur Falschheit. Wenn alles wahr ist, dann ist gar nichts mehr wahr. Wo im Text ist aber Raum für ein klares ‘Wort der Wahrheit’, für Aussagen wie „ich glaube, dass dies wahr und das Gegenteil davon falsch ist“?

Richtig ist natürlich, dass man mit Ernst hinhören soll, was andere glauben und denken. Nichts ist gegen ein „reflektiertes Selbstverständnis im Umgang mit der eigenen Tradition“ einzuwenden, im Gegenteil. Die Autoren des Textes rücken jedoch die traditionelle Position (um sie hier einmal so zu nennen) in ein schlechtes Licht. Dem Glauben sei nicht verheißen, „in allem Recht“ zu behalten. „Der Glaube“ ist hier sehr missverständlich formuliert. Die Offenbarung Gottes? Die christliche Lehrüberlieferung? Der Glaube der einzelnen Christen? Ein Mensch hat als Sünder nie „in allem“, was er so denkt und sagt, Recht. Alles, was nicht göttlich inspiriert ist, ist von Ungenauigkeiten und Fehlern begleitet. Unsere Wahrheitserkenntnis bleibt immer verbesserungs- und korrekturfähig. Insofern stimmt es natürlich, dass es keine im wahren Sinn des Wortes „abgeschlossene Wahrheitseinsicht“ gibt.

Es ist aber zu beachten, dass alle menschliche Erkenntnis in gewisser Weise vorläufig ist. Niemand „besitzt“ daher die Wahrheit. Ein Blick in die Naturwissenschaften zeigt doch, dass die unabgeschlossene Wahrheitserkenntnis uns Menschen gerade nicht hindert, Aussagen mit dem Anspruch auf objektive Wahrheit zu treffen. Fragt man heute einen Physiker, woraus unsere materielle Welt besteht, so wird er oder sie präzise antworten: „Quarks, Leptonen und Gluonen“. Punkt. Diese Antwort wird einem auf der ganzen Welt gegeben werden, und sie wird als wahr, objektiv wahr, betrachtet. Noch vor ein paar Generationen wusste man nur von Protonen, Neutronen und Elektronen, und lange waren auch diese unbekannt. Die Naturwissenschaften schreiten fort zu immer vertiefter Wahrheitserkenntnis.

Der Grundlagentext betont nun, „dass es mehrere Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt“, und hier wird jeder Naturwissenschaftler nur zustimmen. Die Naturwissenschaften selbst sind eine wichtige Perspektive, und auch in ihnen gibt es gleichsam verschiedene Blickwinkel. Dies geht bis hin zum Verhalten des Lichts als Welle oder als Teilchen, je nach Perspektive. Aber damit erledigt sich die Wahrheitsfrage keineswegs. Perspektiven können sich ergänzen, können aber auch in Widerspruch miteinander geraten; Perspektiven sind mehr oder weniger richtig und falsch. So stellte sich die aristotelische Perspektive in der Astronomie in der frühen Neuzeit als falsch heraus; die Planeten bewegen sich nicht auf perfekten Bahnen wie der Grieche fälschlicherweise lehrte.

Im EKD-Text werden wir aufgefordert, „die religiöse Überzeugung des anderen als eine eigene Antwort auf Gottes Wirklichkeit ernst zu nehmen“. Ernst nehmen – ja sicher doch! Aber wie steht es um den Wahrheitsgehalt dieser Antworten aus anderen Perspektiven? Ist z.B. – um beim angeschnittenen Thema zu bleiben – die Auffassung der östlichen Religionen, dass unsere materielle, sichtbare Welt letztlich nicht real, sondern nur Schein ist, wahr oder nicht? Ist dies eine legitime, richtige Antwort auf Gottes Wirklichkeit? Die Geschichte der Naturwissenschaften beweist ja, dass Gottes Wirklichkeit vielfach falsch gedeutet wurde. Soll es im Bereich der Religion keine falschen Deutungen geben?

„Wer nur seiner eigenen Überzeugung Wahrheit zuweist, hat sich der Last der Wahrheitsfrage entledigt“, so heißt es weiter. Es ist aber gar nicht die Frage, ob nicht in anderen Religionen und Weltanschauungen Wahrheit zu finden ist. Natürlich gibt es in nichtchristlichen Denk- und Glaubenssystemen teilweise viel Wahres. So ist ja auch die Aussage des Islam, dass es nur einen allmächtigen Schöpfergott gibt, wahr; und auch im Buddhismus lässt sich gewiss Wahres finden. Dies zu leugnen, wäre töricht. Die entscheidende Frage lautet jedoch, ob Christen Lehren in nichtchristlichen Religionen als falsch und unwahr bezeichnen können und sollen. Hier haben Christen sogar das Recht, Jesus abschließend als den einzigen Weg zu verkünden. Der letzte Grund dafür besteht in übernatürlicher Offenbarung in der Person Jesu und in Gottes Wort (dies unterscheidet die Theologie von den Naturwissenschaften, die sich ‘nur’ auf die natürliche Offenbarung in der Schöpfung gründen). Nur weil Gott selbst gesagt hat, dass Jesus der einzige Weg zum Vater ist, ist er dies auch. Ohne eine göttliche inspirierte Offenbarung kommt man bei der Wahrheitsfrage ins Trudeln. Da das Schriftverständnis in den Großkirchen stark aufgeweicht ist, meiden inzwischen auch die Verlautbarungen der EKD solche Formulierungen wie „dies ist wahr und dies ist falsch“ wie der Teufel das Weihwasser – weil natürlich der „Kultur des Pluralismus“ abträglich.

Der Grundlagentext überschüttet den Leser geradezu mit selbstverständlichen Wahrheiten wie „Religion ist Sache freier Zustimmung und eigener Einsicht“ oder der Erkenntnis, dass das „Verhältnis des christlichen Glaubens zur Wahrheitsfrage komplex ist“. Hier und da werden Sätze eingestreut, die hochtrabend daherkommen, aber wenig Konkretes aussagen: „Die Bedeutung der Wahrheitsfrage im religiösen Dialog verbietet eine Allianz zwischen Macht- und Absolutheitsansprüchen.“

Richtig ärgern muss man sich, dass einem auch hier die Quadratur des Kreises zugemutet wird. Gegen Ende des Abschnitts wird unterstrichen, dass man keineswegs „zwischen Exklusivismus (= es gibt nur eine wahre Religion unter Ausschluss aller anderen), Inklusivismus (= es gibt wenigstens eine wahre Religion, die die Teilwahrheiten aller anderen in sich einschließt) und Pluralismus (= es gibt mehrere wahre Religionen) wählen müsste.“ Ja warum denn nicht? Haben etwa alle Positionen gleich Recht? Welche Position neben diesen dreien wäre logisch noch denkbar? (Die pessimistische Variante natürlich: es gibt gar keinen Weg zum Heil durch Religion, aber die führt direkt zu Agnostizismus und Atheismus.) Wie soll denn der Christ nun denken? Muss man sich hier nicht entscheiden? Der einzige Ausweg ist doch eine postmoderne Aufweichung des Wahrheitsbegriffs – die Kategorie der wahren Religion wird beseitigt. Die Theologen retten dabei ihre Wahrheit, indem sie sie radikal subjektivieren.

Beziehung statt objektiver Tatsachen

Texte wie die zitierten dürften die allermeisten Christen in den Gemeinden nur verwirren. In einer „scobel“-Sendung auf 3Sat im Jahr 2014 zum Thema Wahrheit brachte es Simone Dietz, Professorin für Praktische Philosophie an der Uni Düsseldorf, klarer auf den Punkt:  „Friedensschluss der Religionen beruht darauf, dass man nicht die objektive Wahrheit für seinen Glauben in Anspruch nimmt, sondern sagt: das ist meine Glaubenswahrheit, und die gilt für mich und meine Glaubensgeschwister […].“

Von dieser Überzeugung ging auch Sören Bein in einem Video-Blog („Pastors Montagsgedanken“) aus. Darin erläutert der lutherischer Pastor einer Gemeinde im Kreis Celle, „warum der wahre Glaube die Wahrheit doch nicht gepachtet hat“. Bein schildert folgende Situation: „Ein Christ und eine Muslimin kommen miteinander über ihren Glauben ins Gespräch: Beide sind überzeugt, dass ihr Glaube der einzig wahre Glaube ist.“ Beide berufen sich auf ihre Offenbarungen, Koran bzw. Bibel und Jesus, beide sehen sich als Anhänger der „einzig wahren Religion“. Das Gespräch könnte auch schon beendet sein, was aber laut Bein schade wäre. „Vielleicht wäre es gut, wenn sich beide klarmachen, dass sie auf völlig unterschiedlichen Ebenen sprechen, wenn sie das, was sie fühlen, was sie empfinden, was ihre Überzeugung ist, zu einer objektiven Tatsache machen.“ Seine Lösung: „Beide haben Recht, insofern sie wie Verliebte sprechen. Wer einen religiösen Glauben hat, ist verliebt; er hat zu Gott eine Beziehung, die ihn tief erfüllt. Und wer verliebt ist, kann nicht objektiv sein.“ Daher sei „beim Gespräch mit Angehörigen eines anderen Glaubens viel mehr gewonnen, wenn wir uns ehrlich daran Anteil geben, was unser Gott in unserem Leben getan hat, was wir für ihn fühlen und empfinden, wie er uns bereichert und beschenkt und was wir mit ihm erlebt haben; dass wir von unserer Beziehung sprechen und uns weniger objektive Tatsachen gegenseitig vorhalten. Dann kann wirklich Begegnung stattfinden, und wir können uns miteinander auf einen Weg begeben. Ich glaube, das bringt viel viel mehr.“

Es ist Beins Verdienst, die akademischen Texte der Theologiebeamten einmal in einfachen Worten formuliert zu haben. „Beide haben Recht“, falsch im objektiven Sinne ist gar nichts. Bein baut jedoch einen Gegensatz auf, der in keiner Weise zwingend ist: Gespräch, Begegnung, Anteil nehmen, Zuhören und im Kontrast dazu gegenseitig objektive Tatsachen vorhalten, auf Wahrheit beharren, auf Offenbarung berufen. Er hat natürlich Recht, dass wir „von unserer Beziehung sprechen“ sollen; Christen haben dies schon immer getan. Aber erschöpft sich das christliche Zeugnis darin? Ist das wirklich alles? Und warum sollte das Gespräch beendet sein, wenn unterschiedliche Wahrheitsansprüche aufeinanderstoßen? Gibt es neben dem Austausch von Beziehungserfahrungen nicht auch noch die Möglichkeit des Austausches von Argumenten? Ist es nicht gut denkbar, dass man sich freundlich begegnet und versucht, den anderen von der Wahrheit des eigenen Glaubens zu überzeugen?

Dass sich jemand auf Offenbarung beruft, ist ja nichts Ungewöhnliches. Wie steht es aber um die Glaubwürdigkeit von Offenbarungsquellen? Hier gibt es ja besonders im Bereich der Neuen religiösen Bewegungen teilweise ganz abstruse ‘Offenbarungen’, die sich irgendwie auch in Erfahrungen zu bestätigen scheinen. Sollen die nun jeder Kritik enthoben sein? Sollte man im Gespräch mit einer Anhängerin der Mormonen oder den Nachfolgern eines ausgeflippten Sektengurus auch nach einem gemeinsamen Weg suchen und die Wahrheitsfrage links liegen lassen?

Laut Bein solle man sich darüber austauschen, „was unser Gott in unserem Leben getan hat“. Wieder ist dagegen nichts einzuwenden. Doch so ein Austausch wird ja nur offenbaren, dass dieser Gott irgendwie unterschiedlich ist – oder doch nur unterschiedlich wahrgenommen wird? Wenn es denn den einen Gott gibt, der mit Menschen in Beziehung tritt, kann es dann sein, dass er den einen völlig freispricht (im Christentum) und anderen Gläubige dieser Freispruch vorenthalten wird und letztlich Erlösung auch durch Werke zugemutet wird (im Islam)? Schiebt Bein hier nicht auch ein christlich geprägtes Gottesbild unter, wenn er davon spricht, dass wir „zu Gott eine Beziehung“ haben? In vielen Religionen gibt es keinen persönlichen Gott, teilweise zahlreiche Gottheiten, manchmal nur Göttliches oder gar keine Gottheiten. Hat die Existenz dieses höchsten Wesens so gar nichts mit Objektivität zu tun? Gibt es hier keine objektive Falschheit? Was ist nun wahr: die Existenz eines persönlichen Gottes oder einer göttlichen Energie oder vieler Götter?

Die Existenz des dreieinen Gottes ist Humbug, wenn sie nicht eine objektive Tatsache ist. Diese größte aller Tatsachen können wir nicht beweisen, wir haben sie nicht gepachtet und besitzen sie nicht. Unsere Antwort auf diesen Gott, unser Glaube, unser Empfinden ist natürlich nicht in dem Sinn eine objektive Tatsache wie dieser Gott selbst. Aber die Reaktion und Antwort orientiert sich an dieser grundlegenden Objektivität. Und hier stimmt Beins Bild von der Verliebtheit nicht. Verliebt man sich in eine andere Person, ist dieser Mensch der objektive Auslöser. Man ist verliebt wegen gewisser Qualitäten bei einem anderen Menschen. Von was werden Menschen im Bereich der Religion ergriffen? Die Tatsache des Ergriffenseins ist dabei unbestritten. Die Frage ist hier doch, ob das religiöse Verliebtsein einen rechten, objektiven Grund hat oder nicht. Gründet der Glaube nicht auf objektiven Tatsachen, so ist er Illusion. So argumentierten ja auch die Propheten im AT: Wer an die heidnischen Götter glaubt – und sich in sie verliebt –, der glaubt an Vogelscheuchen und Nichtse. So ein Glaube ist töricht, genauso töricht wie sich in sein Spiegelbild oder andere Scheinbilder zu verlieben. Wir verlieben uns gerechtfertigt in andere Menschen, weil sie wirklich da sind. Verliebt man sich religiös in ein fliegendes Spaghettimonster (darin liegt das Wahrheitsmoment der atheistischen Spötter, die sich dieses Phantasieprodukt ausgedacht haben), dann ist dies nur dumm.

Bein bringt neben dem Beispiel der Verliebtheit das des besten Papis von allen in den Augen seiner Kinder. All das klingt sehr überzeugend, doch man darf Bein an dieser Stelle nicht laufen lassen. Das Gespräch von Christen und Muslimen ist eines. Wie würde er das Gespräch zwischen einem Christ und dem Anhänger eines satanischen Kultes skizzieren? Oder einer Religion, die Menschenopfer als Ausdruck der Verliebtheit praktiziert? In der Religionsgeschichte war dies ja nun wahrlich keine Ausnahme. Was würde er sagen, wenn der religiös Verliebte aus seiner Liebe heraus Gewalt anwendet und rechtfertigt? Wenn man dann mit moralischen Normen kontert, ist die Objektivität doch wieder im Spiel. Und es fragt sich, welches Gottesbild und welches Lehrsystem diese Normen begründen.

Ich halte es daher für eine grobe Täuschung (und falsch), wenn Bein von „völlig unterschiedlichen Ebenen“ spricht. Nein, kann man hier nur sagen, religiös Verliebte befinden sich auf einer Ebene der Wirklichkeit; auf der Ebene, die fragt, was diese Welt im Innersten zusammenhält; auf was oder wen sich Glaube ausrichten kann und soll; auf der Ebene, die Wahrheit und Falschheit, richtiges und falsches Deuten und Verhalten kennt. Unsere Wirklichkeit ist letztlich eine (was aber natürlich auch wieder ein Glaubenssatz ist), und damit bleibt die Frage, wer diese Wirklichkeit besser – wahrer – interpretiert.

Bein nennt ganz am Ende seines Videos das Bild des Weges. Wenn man sich über religiöse Beziehungserfahrungen austauscht und nicht gegenseitig von der objektiven Richtigkeit des Glaubens zu überzeugen versucht, „dann kann wirklich Begegnung stattfinden, und wir können uns miteinander auf einen Weg begeben.“ Hier ist die Frage, was für einen Weg er hier meint. Der Weg der Bürger eines zivilen Gemeinwesens, die miteinander in einem Land und einer Kommune leben, egal welche Weltanschauung sie haben? Möglicherweise. So einen Weg müssen Anhänger unterschiedlicher Religion tatsächlich miteinander finden. Aber auch hier würde ich hinzufügen, dass es unsere westliche Zivilisation traditionell auszeichnet, dass man frei etwas als falsch, unmoralisch, gefährlich, unsinnig usw. bezeichnen darf. Begegnung freier Menschen ist auch immer in Teilen Begegnung von Konflikten, weil Menschen eben so unterschiedlich sind und verschiedene Dinge für wahr und richtig halten. Diese Konflikte tragen wir nur nicht mit Fäusten aus, sondern mit Worten. Es bringt die Zivilgesellschaft keineswegs voran, wenn Konflikte politisch korrekt weggebügelt werden und nur noch nette Begegnungen stattfinden.

Im Videoblog ist aber nur die Religion Thema. Sind Christ und Muslimin auf einem gemeinsamen religiösen Weg? Sind beide auf dem richtigen Weg? Sind Christentum und Islam gleichsam Fahrspuren auf der wahren religiösen Autobahn, die alle zum Ziel führt? Wie man es auch dreht und wendet – die Frage nach dem Weg zum Heil bleibt auf der Tagesordnung. Und ich kann hier keine Alternative zu Exklusivismus (ein Weg unter Ausschluss der anderen), Inklusivismus (ein Weg unter Einschluss der anderen) und Pluralismus (alle Wege sind legitim) erkennen. Viele in den Kirchen neigen heute zum Pluralismus, und so wäre auch Bein direkt zu fragen: Glauben Sie, dass die genannte Muslimin, wenn sie denn ihrem Weg treu folgt, gerettet wird? Hier wird meistens gekontert, dass dies Gottes Entscheidung sei. Also fragt man weiter: Soll man sie von ihrem Weg auf den des Christentums einladen, damit sie des Heils gewiss sein kann? Und das impliziert direkt, dass der muslimische Weg in die Irre führt. Glaubt man nicht, dass Jesus – und der christliche Glaube – der einzige Weg zum Heil ist, dann soll man sich offen zum Pluralismus bekennen. John Hick und andere haben dies getan, und dafür gebührt ihnen Respekt. Doch dann muss man den Nachweis führen, was dies noch mit der Religion der Bibel zu tun hat.

„Rücksicht nehmen auf den Menschen“

Wie können wir andere Menschen dazu bringen, meine Position, meine Lehre oder meinen Glauben anzunehmen? Hier gibt es im Grunde nur drei Antworten. Erstens natürlich diejenige, die überhaupt leugnet, dass dies ein gutes Unterfangen ist: Andere sollen meinen Glauben gar nicht annehmen; soll doch jeder so leben, wie er will. Konsequent und umfassend wird dies jedoch nur selten praktiziert. Selbst die Allertolerantesten haben gewisse Forderungen an andere, und sei es nur der Glaube an die neue Art der Toleranz.

Dann gibt es die Gewalt: Andere werden durch Zwangsmittel gezwungen. „Wenn du das nicht glaubst, bekommt du einen über die Rübe“, könnte man diese Haltung banal, aber treffend ausdrücken. Dies ist sicher die menschliche default position nach dem Fall. Die versteckte Gewalt ist die Manipulation, bei der auf verdeckte und damit unethische Weise unser Verhalten gegen unsere Absicht beeinflusst wird.

Wo von Manipulation zu sprechen ist, wird natürlich mitunter kontrovers diskutiert. Ich würde die oft angeklagte Werbung hier weitgehend freisprechen, da sie meist sehr klar und offen kommuniziert: Unser Produkt ist das beste; kauf es! Das kann wahr oder falsch sein, aber Werbung ist meist sehr ehrlich. Auch die dahinter stehende Absicht ist ehrlich: Unternehmen wollen ihre Produkte verkaufen, und zwar möglichst viel davon. Ja, Werbung und das ganze Drumherum ist ein großer Markt der Eitelkeiten, ein großes Buhlen um Aufmerksamkeit. Aber nur recht selten echte Manipulation. Die treffen wir viel öfter, so vermute ich, im Bereich der Religion. Ein krasses Beispiel eines geübten Manipulators ist in meinen Augen der XIV Dalai Lama. Er erzählt Menschen aus christlicher Kultur ständig, dass er nicht wolle, dass Christen Buddhisten werden: Bleibt bloß in eurer Religion! Dabei tut er alles, aber auch alles, damit Christen buddhistisches Gedankengut aufnehmen und verinnerlichen – und so zu Buddhisten werden.

Die dritte Art der Beeinflussung: Wir bemühen uns, andere Menschen von der Wahrheit von Ideen, Aussagen, Lehren zu überzeugen. Dies geschieht nicht durch Befehle, denen man folgen muss, sondern durchaus auch durch Aufforderungen (glaube dies und jenes!), aber meist durch Argumente, die diese Aufforderungen begründen (glaube dies, weil….). Wir können uns gegenseitig nur durch Sprache überzeugen, und daher ist der Umgang mit Sprache und die Sprachschulung so äußerst wichtig. Immer geht es um Inhalte, das Was, und um die Art und Weise unseres Ausdrucks und Gesprächs, das Wie. Es genügt eben nicht, jemandem die Wahrheit um die Ohren zu knallen. Der Ton macht die Musik. Es gilt, klare Überzeugungen zu haben und sie auch formulieren zu können, und daneben ist Einfühlsamkeit für den Kontext und die Gesprächssituation gefordert.

Die zitierten Texte fallen auf der Seite der Empathie vom Pferd; von klaren Überzeugungen ist nicht mehr viel zu sehen. Große Denker der Vergangenheit haben beide Seiten noch besser zusammengehalten, und hier ist Blaise Pascal zu nennen. In seinen Gedanken schreibt der große französische Gelehrte und Christ:

„Will man mit Nutzen tadeln, und einem andern zeigen, daß er sich irrt, so muß man beobachten, von welcher Seite er die Sache ansieht, denn von der Seite ist sie gewöhnlich wahr und muß ihm diese Wahrheit zugestehen. Er ist damit zufrieden, weil er sieht, daß er sich nicht geirrt und nur unterlassen hat alle Seiten zu sehn. Nun schämt man sich nicht, daß man nicht alles sieht; aber man will sich nicht geirrt haben und vielleicht kommt das daher, weil natürlicher Weise der Geist von der Seite, von welcher er es ansieht, sich nicht täuschen kann, wie alle Wahrnehmungen der Sinne immer wahr sind.“ (1. Teil, neunter Abschnitt, 29)

Pascal formuliert hier ähnlich wie die EKD-Texte; dem Anderen soll man „Wahrheit zugestehen“. Er klingt hier fast schon postmodern: je nach Perspektive und Wahrnehmung ist alles wahr. Pascal geht es aber darum, dass wir uns in den anderen Menschen hineinversetzen und begreifen, warum er oder sie subjektiv dies oder jenes für wahr hält. Denn man übersehe die Eingangsformulierung nicht: Will man „einem andern zeigen, daß er sich irrt […]“ – darlegen, dass sich jemand irrt, und zwar so darlegen, dass diese Person ihre Meinung ändert und zu neuen Überzeugungen kommt (das ist doch der „Nutzen“). Jemandem zeigen, dass er oder sie sich irrt – so etwas käme Bein oder den EKD-Beamten ja nicht einmal über die Lippen.

Ausführlich geht Pascal auf unser Thema im Abschnitt „Von der Kunst zu überzeugen“ ein (Erster Teil, dritter Abschnitt). Der Wille zur tatsächlichen Überzeugung ist wichtig, aber die rationale Dimension wird immer von einer emotionalen begleitet, „denn alle Menschen, die es nur gibt, werden beinahe immer zum Glauben hingerissen nicht durch den Beweis, sondern durch das Wohlgefallen.“ Will man von etwas überzeugen, so muss man „Rücksicht nehmen auf den Menschen, auf den man es abgesehen hat; man muß dessen Geist und Herz kennen, muß wissen, welchen Grundsätzen er beistimmt, welche Dinge er liebt, und ferner bei der Sache, um die es sich handelt, acht geben, welche Beziehung sie hat zu den zugestandenen Grundsätzen oder zu den Gegenständen, die wegen der Reize, die man ihnen beilegt, als köstlich angesehen werden.“ Daher besteht „die Kunst zu überzeugen“ nicht nur im Überzeugen selbst, sondern auch „in der Kunst annehmlich zu machen“. Wir sollen rational „überführen“, aber eine Position auch attraktiv machen, da Menschen nicht nur von der Vernunft bestimmt werden.

Wie wir sahen, ist überzeugen nur mit Mitteln der Sprache zu erreichen. Es kommt also alles auf unsere Sprachfertigkeit an (das ist mit dem altertümlichen „Beredsamkeit“ für das frz. éloquence gemeint). Die Kunst zu überzeugen besteht in der rechten Rhetorik, in einem Gebrauch der Sprache, der Verstand und Herz anspricht. Noch einmal Pascal:

„Die Beredsamkeit ist eine Kunst die Dinge in der Art zu sagen, 1) daß die, zu denen man spricht, sie ohne Mühe und mit Vergnügen auffassen, 2) daß sie sich dabei interessiert fühlen und ihre Eigenliebe sie treibe williger darüber nachzudenken. Sie besteht also darin, daß man eine Verbindung zwischen dem Geist und Herzen derer, zu denen man spricht, einerseits und den Gedanken und Ausdrücken, deren man sich bedient, andrerseits her zu stellen versucht. Das setzt voraus, daß man das menschliche Herz wohl erforscht habe, um alle seine Triebfedern zu kennen und darnach die geeigneten Verhältnisse der Rede zu finden, die man für dasselbe recht passend machen will. Man muß sich an die Stelle derer, die uns hören sollen, versetzen und mit der Wendung, die man seiner Rede gibt, einen Versuch an seinem eignen Herzen machen, um zu sehen, ob eins für das andre gemacht ist und ob man gewiß sein kann, daß der Zuhörer gleichsam gezwungen sein wird, sich zu ergeben. Man muß sich, so viel als möglich, auf das einfach Natürliche beschränken, nicht groß machen was klein, nicht klein was groß ist. Es genügt nicht, daß eine Rede wohlklingend ist, sie muß auch dem Gegenstand angemessen sein; nichts zu viel, nichts zu wenig. Die Beredsamkeit ist ein Abbild des  Gedankens und diejenigen, welche, nachdem sie gemalt, noch etwas hinzufügen, machen ein Gemälde statt eines Abbildes.“ (Zweiter Teil, Siebzehnter Abschnitt,105)

Von Pascal können wir heute lernen, dass es auf der einen Seite nötig ist, andere Menschen von unserem Glauben zu überzeugen. Auf der anderen Seite zeigt er uns auch, wie dies auf einfühlsame Weise, ohne Überwältigung und Verführung, ohne Zwang und Manipulation möglich ist.

Holger Lahayne, 17. Juli 2016, www.lahayne.lt

 

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Mittwoch 10. August 2016 um 10:42 und abgelegt unter Kirche, Theologie, Weltreligionen.