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Evolution und Evolutionstheorien. Irrtümliche Selbstverständnisse und Fehldarstellungen naturalistischer Ursprungsmodelle

Dienstag 28. Juli 2015 von Dr. med. Henrik Ullrich


Dr. med. Henrik Ullrich

Zusammenfassung: In der aktuellen Debatte um „Evolution, Schöpfung und Intelligent Design* (ID)“ werden die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der eigenen Wirklichkeitssicht und des argumentativen Schließens häufig nicht benannt. Darauf haben mehrere Autoren wiederholt hingewiesen. Eine Reflektion über die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Grenzen biologischer (inkl. evolutionstheoretischer) Modellierungen und die angemessene Präsentation ihrer tatsächlichen Erklärungspotentiale ist Grundvoraussetzung für einen sachgemäßen Disput. Die wissenschaftstheoretische Reflexion über den Forschungsgegenstand „Evolution“, über die zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und über das Wechselspiel mit naturwissenschaftlichen Methoden ist unverzichtbar. Sonst wäre das Resultat eine wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch nicht gedeckte Bedeutungszuweisung für die Ausdrücke „Evolution“ und „Evolutionstheorie“. Die Folge wäre ein unkritischer, dogmatischer oder gar quasireligiöser Gebrauch dieser Ausdrücke.

Kann die moderne Biologie als erfolgreiche Wissenschaft vom Leben überleben, wenn Evolution als Tatsache in Frage gestellt und sich nicht als „realhistorischer Prozess“ bestätigen lässt? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht trivial, weil es zum eingeschliffenen Ritual eines Abwehrkampfes geworden ist, jede Infragestellung von Evolution und jede Kritik an evolutionstheoretischen Entwürfen pauschal als Angriff auf die gesamte Biologie und die Wissenschaft insgesamt zu verurteilen. Der in diesem Beitrag skizzierte Exkurs durch die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Biologie und von evolutionär-ateleologischen* Ursprungsmodellen widerspricht diesen Pauschalverurteilungen nachdrücklich.

Grundvoraussetzungen der Naturwissenschaft

Naturwissenschaft wird unter zumeist stillschweigend akzeptierten metaphysischen Zugeständnissen betrieben. Zuerst ist die erkenntnistheoretische Vorgabe zu nennen, die Natur als etwas tatsächlich Gegebenes und vom betrachtenden Subjekt unabhängig Existierendes anzunehmen. Diese Gegenüberstellung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand macht die Natur einer wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse methodisch zugänglich. Die Erwartung, dass es regelmäßige und kausale Zusammenhänge zwischen den Entitäten* der natürlichen Vielfalt gibt, die durch das menschliche Erkenntnisvermögen und mittels der Vernunft angemessen erfasst werden können, sind als weitere philosophische Grundvoraussetzungen zu benennen. Diese Grundpositionen werden vom christlichen Schöpfungsglauben ebenso wie vom ontologischen Naturalismus* a priori in Anspruch genommen, weshalb unter beiden Weltsichten Naturwissenschaft möglich war und ist.

Des Weiteren ist „Naturwissenschaft“ auch in ihrer modernen Erscheinung keine von subjektiven Einflüssen gänzlich unabhängige objektive Erkenntnismethode. Die Inhalte, Fragestellungen oder Leitideen trugen und tragen immer den Stempel des soziokulturellen, politischen und weltanschaulichen Gesamtgefüges der jeweiligen zeitgeschichtlichen Epoche. Im historischen Werdegang der Wissenschaften sind selbstredend viele solche Spuren dokumentiert. Die Geschichte der Biologie, insbesondere das wissenschaftliche Denken über Evolution und Schöpfung liefert dafür beeindruckende Belege (Ullrich 1997).

Methodischer Rahmen und inhaltliche Fragestellungen der Naturwissenschaft Biologie

„Naturwissenschaft: Objektive Methoden in einem subjektiven Umfeld“

Naturwissenschaft stellt eine methodisch definierte und rational begründete Herangehensweise an die dem Menschen wahrnehmbare Natur dar mit dem Ziel, über sie (inkl. den Menschen) transsubjektiv gültige Aussagen bzw. Erkenntnisse zu formulieren. Das heißt, es geht um eine Form menschlicher Erkenntnis, die unabhängig von Religionszugehörigkeit oder subjektiven Vorlieben der Wissenschaftler weltweit reproduzierbar und damit überprüfbar ist. Diese Charakterisierung ist jedoch nur vordergründig gültig, denn wer Naturwissenschaft betreibt, macht stillschweigend metaphysische Zugeständnisse. In der Praxis des heutigen naturwissenschaftlichen Betriebes wird die Natur (als Gegenstand der Forschung) und ihre Geschichte aus pragmatischen Gründen so betrachtet, „als ob es Gott nicht gäbe“. Dieser Leitgedanke oder „Tunnelblick“ ermöglicht Einsichten in das Sein, in Regelmäßigkeiten und das Funktionieren der Natur. In den darauf aufbauenden naturwissenschaftlichen Erklärungen wird nur Gesetzes- und Beschreibungswissen akzeptiert, das auf regelmäßige Beobachtungen und kausale Zusammenhänge für die Ursachen-Wirkungs-Beziehungen zurückgreift und von daher eine (möglichst transsubjektive) empirische Überprüfbarkeit erlaubt. Die Gottesfrage, Sinn- und Zielfragen (z. B. im Sinne einer universellen Teleologie, „Warum“-Fragen) werden dabei zwar aufgeworfen, können aber mit der vorgegebenen Methodik allein nicht beantwortet werden. Auf der Grundlage der o. g. methodischen Konventionen sind im naturwissenschaftlichen Sprachspiel bestimmte Ausdrücke wie etwa „Schöpfer“, „Gott“, „Designer“ per Konvention bedeutungsfrei und damit ohne Erklärungswert für naturwissenschaftliche Aussagen. D. h., alles, was einer naturwissenschaftlichen Beschreibung aufgrund seines ontologischen* Status nicht zugänglich ist („beschreibungsunabhängige Existenz“), kann weder als Erklärung noch als zu Erklärendes im naturwissenschaftlichen Sprachspiel genutzt werden (Gutmann 2005). Es ist jedoch ein fataler Kurzschluss, diese Konvention und methodische Vorgabe als argumentative Grundlage ins Feld zu führen, um die Existenz Gottes als wissenschaftlich widerlegt zu betrachten (siehe das o. g. Zitat von Wuketits).

In dieser wechselseitigen Abhängigkeit der vom Menschen für Menschen gestalteten wissenschaftlich geheißenen Weltbilder liegt eine Gefahr des Missbrauchs des Wissenschaftsbegriffs oder der ungerechtfertigten Inanspruchnahme sogenannter „Wissenschaftlichkeit“. Wird z. B. unvermittelt im Namen der Wissenschaft davon gesprochen, dass nur das auf diesem Weg erlangte Wissen die alleinige Wirklichkeit repräsentieren kann, verwechselt man Weltanschauung mit wissenschaftlicher Rede (z. B. im Historischen und Dialektischen Marxismus von Karl Marx oder im neuen Atheismus bei Richard Dawkins und anderen). Jede spezielle Erkenntnismethode, die sich ihrer eigenen erkenntnistheoretischen Vorgaben, methodischen Grundlagen und Grenzen nicht mehr bewusst ist, hört auf, Erkenntnismethode zu sein. Sie wird zu einem weltanschaulichen Reduktionismus und, wo sie mit einem Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch auftritt, zu einer ideologischen Normative.

Die öffentliche Diskussion zu den Fragen von Schöpfung und Evolution wird gegenwärtig von zwei Fronten dominiert: der des neuen Atheismus und des politisierenden Kreationismus, welcher hierzulande jedoch nicht existiert. Beide sind Erscheinungsformen und Endpunkte der o. g. Fehlentwicklungen. Auf der Basis einer absolut gesetzten und allein richtigen „Wissenschaftlichkeit“ wird die eigene Position mit wissenschaftlichem Anspruch als ausschließliche und alles erklärende Sicht der Welt und des Menschen propagiert.

Biologie: Naturwissenschaft vom unbekannten Leben

Die Biologie, wörtlich die Wissenschaft des Lebens, gilt als eine empirische Naturwissenschaft. Das heißt, nur empirische Befunde (Beobachtungen, Messungen, Analysen der Zusammenhänge von Form und Funktionen usw.) und sie verbindende Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind für eine biologische Erklärung zugelassen. Gegenüber der Physik oder Chemie zeigt die Biologie jedoch deutliche Eigenarten. Die Besonderheiten der funktional-analytisch arbeitenden Biologie (anders ist die Situation in der Evolutionsbiologie, s. u.) lassen sich auf drei Ebenen festmachen. Erstens, es fehlt der Biologie an einer Definition ihres ureigenen Forschungsgegenstandes, dem Leben. Zum zweiten wird der Forschungsgegenstand der Biologie als teleologisch oder zweckmäßig charakterisiert (konstituiert). Das führt drittens dazu, dass ihre Ergebnisse wesentlich in (teleologisch zu analysierenden) Funktionalaussagen formuliert werden. Auf diese drei Besonderheiten kommen wir im Folgenden zu sprechen.

Was ist Leben?

„Trotz – oder gerade wegen – seiner vielfachen Verwendung und der spontanen Zugänglichkeit des Bezeichneten – […] – ist der Begriff aber in seinem deskriptiven Gehalt und normativen Status unklar“ (Toepfer 2005b, 157).

Das Leben lässt sich nicht allein durch Physik und Chemie beschreiben oder in seinen Erscheinungsformen vollständig auf ihre Gesetze kausal zurückführen. Die Wiederbelebung von Emergenztheorien* und systemtheoretischen Erklärungsansätzen sind Ausdruck einer entsprechenden Neuorientierung innerhalb biologischer Forschungsrichtungen, um sich aus der Enge und Sprachlosigkeit reduktionistisch-physikalistischer Szenarien zu befreien (Stephan 2005; Stotz 2005a). Der Selbstwidersprüchlichkeit des naturalistischen Emergenzbegriffs kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Aber auch andere biologische Zentralbegriffe sind hinsichtlich ihrer begrifflichen Fassung relativ unbestimmt und in der Diskussion. Beispiele sind „Funktion“, „Organismus“, „Gen“, „Homologie“ oder „Art“, was nicht ohne entsprechende Konsequenzen für darauf aufbauende Modellierungen geblieben ist (vgl. Wille & Rheinberger 2009).

Teleologie als Methode?

In Folge der Auseinandersetzungen mit den Thesen des Intelligent Design rückte das umstrittene Verhältnis von Biologie zur Teleologie* erneut in den Focus. Die Teleologie gilt als „… die Lehre von den Zwecken und zielgerichteten Prozessen“ (Toepfer 2005a, 36). Auch in einer naturalistisch geprägten Biologie ist die Verwendung einer teleologischen Sprache gängige Praxis und offenbar unumgänglich. Die Voraussetzung von Zweckmäßigkeit (jedoch nicht von Zwecksetzung als intentionaler, willentlicher Prozess der Zielvorgabe) ist nach Toepfer für die Erforschung der Organismen und ihrer Wechselbeziehungen konstitutiv. Anders ausgedrückt, das (auch nur teilweise) Verständnis eines Organismus als solchen ist ohne die Kategorie der Zweckmäßigkeit nicht möglich. Das heißt: Man kann z. B. die Tätigkeit des Herzens nicht angemessen beschreiben und verstehen, ohne einen Zweck ins Spiel zu bringen. Gleichzeitig wird betont, dass im Rahmen der naturalistisch bestimmten Naturwissenschaft diese Zweckmäßigkeit „… zwar zum Bestimmungsgrund, damit aber nicht zur realen Ursache des betreffenden Gegenstandes“ (Toepfer 2005a, 50) erhoben werden kann. Das heißt: Der Zweck des Herzens als Pumporgan wird nicht als Ursache der Entstehung des Herzens eingeführt. Die Funktion von Teleologie wird also allgemein als methodisch notwendig für die Beschreibung lebender Systeme akzeptiert; die Mehrzahl der heutigen Biologen distanziert sich demgegenüber deutlich von einer rational ebenso begründeten, universellen Teleologie, die eine zwecksetzende Entstehungsursache der Organismen postuliert (z. B. einen Schöpfer) oder eine Ausrichtung aller Elemente des Universums auf Ziele hin annimmt (z. B. teleologische oder theistische Evolutionstheorien). Begründet wird diese Position nicht aufgrund des biologisch verfügbaren Datenmaterials oder Wissens, sondern weil sie mit einem naturalistischem Weltbild nicht vereinbar ist (da sie einen Akteur voraussetzt) und weil ateleologische Ursprungsmodelle verabsolutiert werden. Toepfer begründet den dominierenden Konsens so:

„Abgelehnt werden diese Formen der Teleologie, weil die bestehenden Modelle zur kosmischen Genese und organischen Evolution als hinreichende Erklärung der anorganischen Veränderung und organischen Höherentwicklung gelten und weil keine zielgebenden Faktoren identifiziert werden konnten – und weil diese darüber hinaus einen fraglichen Status in einem naturwissenschaftlichen Weltbild hätten, das ohne einen planenden Schöpfergott auskommen will“ (2005a, 37).

Die Gründe, welche hier aufgeführt werden, um eine universelle Teleologie als möglichen Erklärungskontext wissenschaftlicher Fragestellungen auszuschließen, basieren also erstens auf der Überzeugung, dass die heutigen Vorstellungen über eine natürliche Entwicklung des Kosmos und des Lebens hinreichende Erklärungen bieten. Zweitens auf der Vorstellung, dass es mit den Methoden der Wissenschaft nicht möglich war und ist, außerwissenschaftliche Kausalzusammenhänge zu belegen; und drittens auf dem Bekenntnis zu einem „naturwissenschaftlichen“ (in Wirklichkeit: naturalistisch-reduktionistischen) Weltbild, welches sonst zur Disposition stünde. Während die beiden zuletzt genannten Argumente Toepfers weltanschaulicher und damit eher ideologischer Natur sind, beruft sich das erste auf naturwissenschaftliche Modellierungen. Hier lässt sich eine tatsächliche und nichtnatürliche Handlungsursache aber nur dann als unnötig erweisen, wenn die favorisierten, natürlichen (ateleologischen) Entwicklungsmodelle ihren Anspruch, hinreichende Erklärungen der „anorganischen Veränderung und organischen Höherentwicklung“ zu liefern, tatsächlich einlösen könnten. Das ist aber keineswegs der Fall, auch wenn dies – wie bei Hemminger oben gezeigt – permanent behauptet wird.

Funktionalaussagen = teleologische Beschreibungen

Aufgrund der Zweckmäßigkeit, die wir Lebewesen und ihren Bestandteilen als Forschungsgegenstand der Biologie zuschreiben, besitzen auch biologische Erklärungen eine besondere Qualität: Sie sind, anders als z. B. die Beschreibung der Bewegungen von Elektronen, Funktionalaussagen mit teleologischem Charakter. Dazu einige Beispiele: Die Reizauslösung und -übertragung funktioniert im Auge unter Einbeziehung biochemischer Reaktionskaskaden. Die Regulierung der Herzfrequenz erfolgt bei Belastung u. a. durch die körpereigene Analyse der Blutgase. Die Ausschüttung von Hormonen wird über periphere Rezeptoren gesteuert. In Mechanismen, welche Gene aktivieren oder inaktivieren sind z. B. Masterkontrollgene eingebunden.

Die Behandlung der Themenstellungen im Rahmen der funktional-analytisch arbeitenden Biologie erfolgt primär unabhängig und unbeeinflusst vom Wissen oder den Theorien über die Herkunft und Entstehung des Lebens. Dies gilt auch dann, wenn angeregt durch Ursprungshypothesen nach speziellen molekularbiologischen, physiologischen oder morphologischen Merkmalen der Organismen gesucht wird. Im Gegensatz zu den hier betrachteten funktional-analytisch ausgerichteten Theorien, die zu 100% die gesamte moderne Medizin bestimmen, zeigen Ursprungstheorien wie die Evolutionstheorien eine grundsätzlich andere Begründungsstruktur und einen anders zu definierenden Forschungsgegenstand. Die Evolutionsbiologie ist wie jede Ursprungsforschung nur unter Rückgriff auf bereits „nicht-evolutionär“ erworbenes Wissen möglich und verfolgt den Anspruch, das heutige Erscheinungsbild der Organismen und den Charakter der Ökosysteme als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung zu erklären (Abb. 2). Im Ergebnis entwirft sie Rekonstruktionen eines hypothetischen Entwicklungsverlaufes in erzählender Berichtsform (z. B.: „Aus A ist B entstanden, D und C leiten sich von Vorfahren ab, die B nahe standen“).

„Methodologisch von Bedeutung ist nun, dass die Evaluierung unserer Erzählung im Lichte genau jenes funktionalen und nomothetischen* Wissens stattfindet, das wir grundsätzlich auch ohne diesen Bericht in Geltung setzen können. Dies scheint die Evolutionstheorie als einen zwar methodologisch möglichen, aber letztendlich nachgeordneten Typ wissenschaftlicher Begründung zu bestimmen. Insofern wäre sie für die (in der Regel funktional orientierte) laborwissenschaftliche Praxis letztlich irrelevant“ (Gutmann 2005, 263).

Evolution, Evolutionsbiologie und der Abschied von „der Evolutionstheorie“

Fehlende Reflexionen

1983 publizierte Alfred Locker eine Arbeit über system- und metatheoretische Aspekte von „Evolution“ und „Evolutionstheorie“. Darin beklagt der Autor die weitestgehend fehlende Bereitschaft von Evolutionsbiologen zu einer wissenschaftstheoretischen Reflexion über ihren Forschungsgegenstand, über die zugrunde liegenden Sätze ihrer weltanschaulichen Konventionen und theoretischen Konzeptionen.„Ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit, den mit „Evolution“ gemeinten Prozess zu definieren, wird er für unumstößliche Tatsache gehalten und die ihn darlegende, sich nach ihm benennende Theorie als eine so sehr gesicherte angesehen, dass für ihre Anhänger keine Veranlassung besteht, ihr „Lieblingskind“ auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, d. h. die Theorie metatheoretisch zu reflektieren und nach ihrer Voraussetzung und Geltung zu fragen“ (Locker 1983, 2).

Die Evolutionsbiologie blieb scheinbar unbeeindruckt von dieser Kritik, so dass 13 Jahre später auch Gutmann resümiert:

„Während die moderne Wissenschaftstheorie die Biologie kaum wahrnimmt, hat sie sich von dieser doch zugleich in immer größeren Maße abhängig gemacht. […] Umgekehrt hat die Weigerung der Biologie, auf wissenschaftstheoretische Einwände zu antworten, zur Blindheit dieser Naturwissenschaft gegenüber eigenen methodischen Schwächen geführt. Das lässt sich in besonderer Weise am Beispiel der Evolutionstheorie als einer der für Philosophie wie Biologie gleichermaßen zentralen Ansätze moderner Naturwissenschaft aufzeigen“ (Gutmann 1996, Covertext).

In einem Beitrag des „Laborjournals“ weist der Pflanzenphysiologe Kutschera offensichtlich unbeeindruckt immer noch die Anfragen der Geisteswissenschaften an die Evolutionsbiologie schroff zurück: „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn, außer im Licht der Biologie“ (Kutschera 2008, 32). Abseits einer solchen platten und zirkulären Argumentationslogik gibt es genügend Autoren unter den Evolutionsbiologen, die sich der Bedeutung der von Locker zurecht geforderten Reflexion bewusst waren und diese anstrebten. Zum Beispiel sei auf S. J. Gould verwiesen.

„Wenn Wissenschaftler sich den Mythos zu Eigen machen, dass Theorien ausschließlich aus Beobachtungen erwachsen, und wenn sie deshalb nicht prüfen, welche persönlichen und gesellschaftlichen Einflüsse sie aus ihrem eigenen Inneren beisteuern, missverstehen sie nicht nur die Ursachen ihrer Meinungsänderung, sondern unter Umständen begreifen sie auch nicht, welche tief greifende, umfassende geistige Verschiebung in ihrer eigenen Theorie verschlüsselt ist“ (Gould 2005, 456).

Evolution

„Tatsache Evolution“ – so tituliert Kutschera (2009) zu Ehren von Charles Darwins 200. Geburtstag und des 150. Jahrestages der Publikation seines Hauptwerkes „On the Origin of species“ sein neuestes Buch. Unter vielen Wissenschaftlern und in breiten Teilen der westlichen Gesellschaft gilt „Evolution“ als Faktum, so selbstverständlich und sichtbar wie eine gerade stattfindende Mondfinsternis oder ein Erdbeben in Indonesien. Ein weiteres aktuelles Beispiel bieten Junker & Paul (2009, 1): „Evolution ist eine Tatsache – so wie es eine Tatsache ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass die ägyptischen Pyramiden vor mehr als 4000 Jahren erbaut wurden.“ In bemerkenswerten Analysen von Locker (1983) und von Gutmann (1996; 2005) wird diese Darstellung von Evolution als „Hypostasierung“* (Locker) bzw. als „empirischer Missverstand“ (Gutmann) aus dem Blickwinkel der wissenschaftstheoretischen Analyse entmystifiziert. Mit „Hypostasierung“ bezeichnet man die idealisierte Nutzung abstrakter Ausdrücke in einer Form, dass sie für Realitäten oder Tatsachen gehalten werden. Der abstrakte Ausdruck Evolution wird nach Locker kritiklos durch seinen Gebrauch zu einem Begriff, der unhinterfragbar Realität oder Tatsachen darstellt. Für Gutmann ist die Verwendung von „Evolution“ in dieser hypostasierten Form ein „empirischer Missverstand“ von Evolution, der sich negativ auf den Erklärungswert von entsprechenden Theorien auswirkt (Zirkularität der Argumentation, s. u.).

Beide Autoren sehen sich nicht als Kritiker der Evolution, die als naturhistorischer Prozess für sie die wissenschaftlich beste Erklärung der Geschichte des Lebens darstellt. Ihre Kritik trifft eine wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch nicht gedeckte Bedeutungszuweisung zum Ausdruck Evolution, woraus ein meist unkritischer und quasi-religiöser Gebrauch derselben resultiert. Die Aussagen: „Das Auge war eine große Erfindung der Evolution“ und „Die Evolution gab mangelhaften Augen ein besseres Sehvermögen“ (Überschriften des New Scientist vom 6. 5. 2010) sind bemerkenswerte Beispiele, wie „Evolution“ zum aktiv handelnden und kreativen Subjekt emporgehoben wird.

Die gegenwärtige Verwendung des Ausdrucks Evolution bewegt sich auf drei Bedeutungsebenen, die in vielen Darstellungen jedoch nicht sachlich korrekt bzw. für den Leser nachvollziehbar differenziert werden. Erstens: Evolution als ein (hypothetischer) naturhistorischer Prozess; zweitens: Evolution als Leitidee oder paradigmatische Vorgabe evolutionsbiologischer Forschung; und drittens: Evolution als übergreifender weltanschaulicher Deutungsrahmen. Für einen historischen Exkurs zu Verwendung und Bedeutung des Ausdrucks Evolution siehe Gould (2002).

1. Die Rede von Evolution charakterisiert auf der Ebene der Erscheinungen einen vermuteten naturhistorischen Prozess, der durch den Wandel, das Werden und das Vergehen des Lebendigen in Folge naturimmanenter Wechselwirkungen vorangetrieben wird. Die gegenwärtige Gestalt der Lebensvielfalt und ihre räumliche Verteilung in den verschiedenen Ökosystemen werden als Ergebnis dieses naturhistorischen, natürlichen und ateleologischen Prozesses verstanden. Evolution ist in ihrer Gesamtheit der unmittelbaren empirischen Beobachtung entzogen und nur indirekt erschließbar bzw. rekonstruierbar. Evolution wird häufig mit dem der Individualentwicklung entlehnten Begriff „Entwicklung“ synonym verwendet. Damit wird aber eine entscheidende und hier kurz erläuterte Unterscheidung übergangen: Evolution als hypothetischer Naturvorgang muss im Gegensatz zu „Entwicklung“ bei der (sichtbaren) Individualentwicklung (Ontogenese) erst wissenschaftlich plausibel gemacht werden. Während im Rahmen der funktional-analytisch biologischen Beschreibung der beobachtbaren Individualentwicklung (Ontogenese) über Entwicklung in progressiv reflexiver Weise gesprochen werden kann (d. h. der Prozess kann vom Anfang zum Endzustand empirisch beschrieben werden ohne Zuhilfenahme eines handelnden Agenten oder einer wirksamen Teleologie) ist dies bei Entwicklung im Sinne von Evolution nicht möglich. Um den Status aufrecht zu erhalten, Evolution als einen ateleologischen, naturgesetzlich bestimmten Prozess zu fassen, muss hier Entwicklung ebenfalls reflexiv (ohne zu Zuhilfenahme eines handelnden Agenten oder einer wirkmächtigen Teleologie), aber regressiv (vom Endzustand zum Anfangszustand) erschlossen werden. Eine angemessene Darstellung von Evolution als Phänomen der Entwicklung des Lebens erfordert damit Aussagen über den Anfang, das Ergebnis, den Modus und die Mechanismen des postulierten Wandels. Somit ist zunächst mit Gutmann festzuhalten, dass aus wissenschaftstheoretischer Sicht „die Einheit des Naturvorganges Evolution kein empirischer Sachverhalt ist, sondern die Voraussetzung auch nur einer Konzeptualisierung derselben; wir können hier […] von apriorischen Aspekten der Gegenstandskonstitution sprechen …“ (Gutmann 2005, 250).

Damit ist gemeint: Wie oben bereits angesprochen, darf der Prozess Evolution, den es zu erforschen und zu bestätigen gilt, in die Theorienbildung nicht schon primär als Faktum oder belegter empirischer Sachverhalt (als „Evolution“), sondern nur als Leitidee (= Konzeptionalisierung, s. u.) eingeführt werden. Je nach dem, wie man sich den Verlauf des Prozesses Evolution vorstellt (z. B. graduell oder sprunghaft, gelenkt oder ungelenkt usw.) sollten sich spezifische biologische oder paläontologische Befunde nachweisen lassen (apriorische Aspekte der Gegenstandskonstitution). Die Missachtung dieser Zusammenhänge führt regelmäßig zu zirkulären Argumentationsmustern evolutionärer Konzeptionen, wie Gutmann am Beispiel der Synthetischen Evolutionstheorie dokumentiert.

„Dieser Grundwiderspruch, der im empirischen Mißverstand der Evolution als eines gegebenen Naturgegenstandes verankert ist, wird auch im weiteren Verlauf den zentralen Ansatz der Rekonstruktionen liefern: er ist die Achillesferse darwinistischer Artkonzepte“ (Gutmann 1996, 81).

In dem Moment, wo Evolution selbst nicht mehr als Phänomen gilt, das zur Erklärung ansteht, sondern dem Ausdruck „Evolution“ selbst unhinterfragbar erklärende Funktionen zugewiesen werden, erhält diese Rede von „Evolution“ Substanzcharakter, d. h. „Evolution“ wird zu einem handelnden und real existierenden natürlichen Agenten. Diese Akzentverschiebung bezeichnete Locker, wie bereits oben aufgeführt, als Hypostasierung. Unbewusst wird der hypothetische und zu erklärende Prozess Evolution zur „Evolution“ transformiert, also zu etwas faktisch Vorliegendem (wie eine Mondfinsternis) und dem erkennenden Subjekt als nicht mehr in Zweifel zu stellende objektive Realität gegenübergestellt. Den „objektiven“ Mechanismen der „Evolution“ traut man es unbedenklich zu, Organismen inkl. Menschen, entstehen zu lassen. Hemminger dokumentiert diesen empirischen Missverstand von Evolution als „Evolution“ mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen offenbar unbemerkt und deshalb eindrucksvoll, wenn er schreibt:„Das „Dass“ der Evolution steht nicht mehr infrage, sofern man der menschlichen Vernunft überhaupt zutraut, rationale Erklärungen für Naturvorgänge zu finden. […] Die Frage ist auch nicht, ob es eine Evolution der Lebewesen gibt. Diese Frage ist empirisch beantwortet, denn die verfügbaren Beobachtungsdaten lassen sich nur mit Hilfe der Evolutionstheorie deuten“ (Hemminger 2007, 14, 22).

2. Evolution dient in einer zweiten Bedeutungsebene als paradigmatische Leitidee oder Leitthema für die Deutung der heute beobachtbaren Merkmalsverteilungen und beschriebenen Ordnungen des Lebendigen. Da es unterschiedliche Vorstellungen vom Verlauf und den Triebkräften der Evolution gab und gibt, wurden auch ausgehend von divergierenden evolutionären Leitideen vielfältige Evolutionstheorien entwickelt (vgl. den nachfolgenden Abschnitt „Evolutionstheorien“). Dabei wird Evolution abstrakt als tatsächlich geschehen vorausgesetzt, ohne über den tatsächlich abgelaufenen Prozess (siehe 1.) Rechenschaft ablegen zu müssen. Das jeweilige Bild von Evolution liefert einen vorgegebenen theoretischen Rahmen, in dem wissenschaftliche Daten, Hypothesen und Theorienbildungen eingepasst werden. Eine zunächst auch ohne die Voraussetzung von Evolution wahrnehmbare Ordnung (z. B. auf der Basis von morphologischen, genetischen, molekularbiologischen oder embryonalen Ähnlichkeitsvergleichen) wird sekundär im Sinn von Evolution interpretiert und z. B. als phylogenetisch bedingte Verwandtschaft mittels Stammbäumen oder Cladogrammen abgebildet. Die Möglichkeit, entsprechende Stammbäume zu erstellen, ist aber kein eindeutiger Beweis für die Tatsächlichkeit des Prozesses Evolution (s. o.), sondern ein Argument dafür, dass unter der Vorgabe einer spezifischen Leitidee von Evolution eine plausible Wertung biologischer Daten möglich ist. Unter dieser Vorgabe kann sich die jeweils favorisierte Leitidee von Evolution auch als nicht tragfähig erweisen oder bestimmte Daten nicht befriedigend deuten. In den letzten 150 Jahren wurden auf dieser Basis vielfältige, zum Teil widersprüchliche evolutionstheoretische Modellierungen oder historische Rekonstruktionen (bzw. historische Berichte nach Gutmann) in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht. Deutliche Differenzen unter den Evolutionsbiologen finden sich zum Beispiel, wenn man danach fragt, ob man spezielle Richtungen oder Tendenzen des evolutionären Prozesses retrospektiv erkennen kann und wer eigentlich Träger des evolutionären Wandels ist (Gen, Organismus, Populationen, Organismus-Umweltsystem usw.). Aufgrund ihres naturhistorischen Charakters sind die einzelnen Evolutionstheorien nicht falsifizierbar, sie besitzen eine mehr oder weniger große Plausibilität (Vogt 2008). Denn ohne Wissen über den tatsächlichen Ablauf von Evolution kann eine Entscheidung darüber, welcher phylogenetische Stammbaumentwurf oder welcher Evolutionsmechanismus der richtige ist, aus rein methodischen Gründen nicht getroffen werden.

Es ist leider zur Regel geworden, den hier skizzierten Aspekt von Evolution als Leitidee spezifischer Evolutionsmodelle zu maskieren, zu ignorieren bzw. nicht mehr zu thematisieren.

Um den einzelnen Leitideen von Evolution zwingend Plausibilität zur verleihen, ist ein Stehenbleiben bei Ergebnissen des Merkmalsvergleiches nicht ausreichend. Es muss nach Ausgangsbedingungen und Mechanismen gesucht werden, die das Entstehen von Neuem (Makroevolution, Bauplanwechsel, transspezifische Evolution), den Wandel (Mikroevolution) und das Vergehen von Vorhandenem erklären. Die aus der funktional-analytisch orientierten Biologie verfügbaren Befunde (z. B. Mutation, horizontaler Gentransfer bei Bakterien, Wechselwirkung zwischen epigenetischen und genetischen Funktions- und Informationsträgern, ontogenetische Regulationskaskaden, Selektion, Populationsdynamik, Zusammenhang von Form und Funktion usw.) werden ihrerseits retrospektiv in die Vergangenheit extrapoliert und zur Erstellung eines Evolutionsverlaufes im Modus der hypothetischen Rekonstruktion genutzt (Gutmann 2005).

Die Lösungsvorschläge zur Erklärung der Evolutionsmechanismen sind vielfältig und lassen sich nicht einfach unter dem Namen einer Erweiterten Synthetischen Evolutionstheorie (z. B. Kutschera 2007) widerspruchsfrei miteinander verbinden. Ein Blick in die aktuelle Literatur zeigt demgegenüber, dass widersprüchliche und einander ausschließende Ansätze im Rahmen der evolutionsbiologischen Forschung verfolgt wurden und werden (s. u.). Es muss an dieser Stelle betont werden: Unabhängig und unbeeindruckt vom Erfolg oder Misserfolg der Evolutionsbiologie, Evolution plausibel zu machen oder Evolution als sinnstiftende Leitidee der Biologie zu bestätigen, gestaltet sich die Weiterentwicklung und der Wissenszuwachs der funktional-analytisch arbeitenden Biologie. Die Ergebnisse der Biologie bilden selbst erst das Rückgrat für evolutionstheoretisch begründete, hypothetische Rekonstruktionen. Umgekehrt lässt sich dies eben nicht behaupten.

3. Kurz noch einige Gedanken zu Verwendung des Ausdrucks Evolution als ideologisches oder weltanschauliches Programm. Mit Evolution in diesem Grundverständnis wird viel erklärt, sie gilt als Sinnstifter nicht nur in der Biologie.

„Erstens ist die Evolution eine Wahrheit – und Wahrheit kann uns nur freier machen. Zweitens befreit die Evolution den Geist des Menschen“ (Gould 2005, 281).

Mit dem Anspruch, auch die Gesamtwirklichkeit als evolutionäres Entwicklungsprodukt zu fassen, wird Evolution hier zum universellen ateleologischen Erklärungsansatz. Diesen Schritt gehen aber nicht alle Befürworter eines ateleologischen Ursprungsmodells mit. Denn Gott, Glauben, Bewusstsein, Denken, Moral und Freiheit des Menschen werden in der ideologisierten Sicht des Evolutionismus jeglicher kategorialer und qualitativer Sonderstellung enthoben (z. B. Junker & Paul 2009). Wird Evolution mit weltanschaulichen Elementen verwoben, ist es berechtigt, von Evolutionslehre zu sprechen und sie zum Beispiel auf diesem Niveau mit religiös motivierten Schöpfungslehren zu vergleichen.

Das sonderbare Aufgehen der „Evolutionstheorien“ in die Evolutionsbiologie

Evolutionstheorien

Eine den Fachleuten bekannte Einsicht löst in breiten Kreisen unserer Gesellschaft Verwunderung hervor. Medien, Bücher inkl. Lehrbücher und einige gern zitierte Experten der Evolutionsbiologie reden von der Evolutionstheorie als einer einheitlichen, vollständig bewiesenen, im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts ständig verbesserten wissenschaftlichen Theorie zur Erklärung der Evolution.

„Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Darwins Evolutionsmechanismus aus Variation und Selektion, seine berühmte Theorie der natürlichen Auslese, in ihrer modernisierten Form konkurrenzlos. […] Die Evolutionstheorie kann (noch) nicht alles erklären und wie in jeder Wissenschaft gibt es offene Fragen, ungelöste Probleme und interessante neue Forschungsfelder. […] Nicht die Mathematik ist also das Entscheidende, wie der Philosoph Immanuel Kant vermutet hatte (1786: 14), sondern man kann ohne Übertreibung sagen, dass in der Wissenschaft vom Menschen „nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Evolutionstheorie anzutreffen ist““ (Junker & Paul 2009, 1).

Diese Darstellung spiegelt jedoch nur eine Position von dem wider, was an tatsächlicher Vielfalt in der Evolutionsbiologie diskutiert wurde und wird. Es gab und gibt nicht die eine „Evolutionstheorie“, welche in einer einheitlichen Synthese alles Wissen der Biologie und alle Aspekte der zur Disposition stehenden Anfragen zur Evolution beantworten würde (vgl. Abb. 3 und 4).

„Wie jede wissenschaftliche Disziplin bietet uns nämlich auch die Evolutionsbiologie ein ganzes Feld unterschiedlicher und z. T. sich gegenseitig ausschließender Ansätze, Theorien und Theorietraditionen“ (Gutmann 2005, 249).

Analog – wie bei der Verwendung von „Evolution“ gezeigt – ist bei Junker & Paul (2009) eine ähnliche Bedeutungsverschiebung und Hypostasierung bezüglich der Verwendung des Ausdrucks Evolutionstheorie zur „Evolutionstheorie“ zu beobachten. Wegen eines absolut gesetzten Geltungsanspruches dieser imaginären „Evolutionstheorie“ kritisiert Locker umso schärfer den ihr („ET“) zugrunde liegenden Trugschluss.

„Das leichtfertige Unterlassen von begrifflichen Differenzierungen und das bedenkenlose Zusammenwerfen alles dessen, was die Vernunft zu trennen verlangt, besonders von Empirischem (Gegenständlichem) und Trans-Empirischem (dem das Gegenständliche Voraussetzenden) führt zu dem Faktum, daß die „ET“ nur von der Verschleierung ihrer krassen Denkfehler lebt“ (Locker 1983, 6).

Es gibt eine Fülle von wissenschaftshistorischer Literatur, die sich der Evolution von Evolutionstheorien gewidmet hat. Die darin formulierten Ergebnisse dokumentieren, dass es vor, während und nach Darwin bis in unsere heutige Zeit immer parallel existierende konzeptionelle Entwürfe gab, um Evolution als Ganzes oder einiger ihrer Details als naturhistorischen Prozess zu erklären (Eine gute Zusammenfassung liefern Levit et al. 2005, eine detaillierte Analyse ist bei Gould 2002 zu finden). Die Synthetische Evolutionstheorie (SET) oder in ihrer modernen Variante die Erweiterte Synthetische Evolutionstheorie (Kutschera 2007) gilt in der breiten Wissenschaftswelt als Standardmodell, konnte sich aber nie gegen alternative Modellansätze allgemein durchsetzen. Levit et al. (2005) zählen zu den alternativen Evolutionstheorien jene Entwürfe, die sich selbstredend als Alternative zur SET verstehen, die als unvereinbar mit ihr gelten und die von den Vertretern der SET als konkurrierende Ansätze interpretiert werden. Dazu gehören (1) der Mutationismus (z. B. Gould 2002 mit dem „punctuated equilibrium“), (2) Biosphärentheorien und Evolutionstheorien auf globaler Ebene (z.B. Vernadskys Biosphärentheorie), (3) „Wissenschaftlicher“ Kreationismus (z. B. Formenkreislehre Kleinschmidts: Evolution ohne gemeinsame Abstammung von einer Urform), (4) Alt-Darwinismus (z. B. bei Haeckel: Einheit von Lamarckismus, Orthogenese und Selektion), (5) Neolamarckismus (z. B. Abel und Lyssenko: Vererbung erworbener Eigenschaften), (6) Idealistische Morphologie (z. B. Naef, Lubosch, Remane, Konzept des Typus als gemeinsamer Urform, Priorität der empirisch-strukturalistischen Studien vor genealogischen Theorien), (7) Saltationismus (z.B. Schindewolf, Goldschmidt: Umformungen durch Makro- oder Großmutationen, „Hopeful-Monster-Theorie“), (8) Orthogenese (z. B. Nägeli, Berg, Gutmann: eingeschränkter, durch „Constraints“ determinierter Evolutionsverlauf, Konstruktionsmorphologie der Frankfurter Schule). Diese Einteilung ist nicht vollständig. Manche Autoren (wie Gutmann 2005) nutzen andere Kriterien zur Differenzierung der beschrittenen Diskussionsebenen. Wichtig für unser Thema ist dabei, dass neben rein naturalistischen ateleologischen Modellen immer auch teleologische Erklärungsansätze verfolgt wurden (hier 3 und 8). Eine wichtige gegenwärtige Entwicklung im Hinblick auf die Überwindung der gen- und selektionszentrierten Ansätze innerhalb der Evolutionsbiologie stellt die Arbeit um die Gruppe der „Altenberg 16“ dar (ausführliche Dokumentation bei Mazur 2009). Offen wird gegenwärtig über einen Paradigmenwechsel innerhalb der Evolutionsbiologie gesprochen (Fodor & Piattelli-Palmarini 2010). Kritisch beurteilt man vor allem die Bedeutung der durch die SET favorisierten Mechanismen Selektion und Mutation, denen nur noch die Rolle der Feinjustierung im Evolutionsprozess zukommen soll. Die Evolutionsbiologie steht vor ungelösten Grundfragen, welche bisher weder von der SET noch von den anderen genannten theoretischen Ansätzen beantwortet werden konnten (s. Kastentext).

Ungelöste Grundfragen der Evolutionsbiologie

Nach Stotz (2005b, 349f) lassen sich die ungelösten Grundfragen der Evolutionsbiologie wie folgt zusammenfassen: In den anerkannten Evolutionstheorien findet sich keine Erklärungen für

  • die Fähigkeit von Arten zu evolvieren, also die Fähigkeit von Organismen, adaptive Variationen hervorzubringen;
  • die Entstehung von evolutionären Innovationen oder Neuerungen („arrival of the fittest“ gegenüber „survival of the fittest“);
  • Entwicklungsprozesse, welche Homologie und Homoplasie hervorbringen und eine Erklärung dafür, warum verschiedene Eigenschaften unterschiedlich konserviert sind;
  • die Verbindung zwischen Genotyp und Phänotyp durch die kausalen Vorgänge der Epigenese,
  • für entwicklungsbiologische und andere Formzwänge, die die Produktion von Varianten beeinflussen;
  • die Entstehung von Entwicklungsmodulen;
  • die verlässliche Reproduktion von Entwicklungssystemen, deren Eigenschaften nicht durch Gene allein erklärt werden können (Vererbung im weiteren, embryonalen Sinne).

Evolutionsbiologie

Unbestreitbar ist: Nicht-teleologische Ursprungsmodelle liefern legitime und heuristisch fruchtbare Ansätze, um den vielfältigen Geheimnissen des Lebens neben der funktional-analytisch arbeitenden Biologie auf die Spur zu kommen. Die Evolutionsbiologie muss aber wie jede andere Forschungsrichtung auch Rechenschaft darüber ablegen können, welche Rahmenbedingungen der Formulierung ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Theorien zugrunde liegen. Um nicht weiter einer Hypostasierung ihres Gegenstandes („Evolution“) oder ihrer Modelle („Evolutionstheorie“) anheim zu fallen und um einen innerwissenschaftlichen Diskurs führen zu können, gilt auch für sie, Antworten zu geben auf folgende Fragen (nach Gutmann 1996):

  1. Was ist das Erkenntnisinteresse (Gegenstand) der jeweiligen Wissenschaft?
  2. Welche Erkenntnismittel, Methoden, etc. werden zum Erreichen dieser Zwecke eingesetzt?
  3. Welche Aussagen sind unter den gegebenen Bedingungen (1 und 2) möglich?

Für die Evolutionsbiologie ist das Erkenntnisinteresse bzw. der Forschungsgegenstand die Evolution. Wie bereits festgehalten, ist Evolution kein empirisch beobachtbarer Naturvorgang und kann nicht als etwas unhinterfragbar Vorliegendes deklariert werden. Wird dagegen Evolution im Sinne einer Leitidee oder als Konzeptionalisierung a priori für die Forschung genutzt, ist dies entsprechend zu kennzeichnen und bei der Wertung der daraus gewonnenen Ergebnisse und Aussagen zu berücksichtigen. Ein Beispiel zur Illustration: In einem auf embryonalen Ähnlichkeitskriterien basierenden Stammbaum des Auges geht die Leitidee über Evolution ein, dass die Nähe der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft mit einem höheren Grad an embryonaler Ähnlichkeit korreliert. Der auf paläontologischen Befunden basierende Stammbaum des Auges wird von der Leitidee über Evolution bestimmt, dass in der Regel in älteren Gesteinsschichten Vorläufer und in jüngeren Gesteinsschichten modernere Versionen der Augen zu finden sind. Beide Stammbäume repräsentieren und beweisen nicht den tatsächlichen Ablauf der Augenevolution. Sie sind eine Modellierung, die für oder gegen einen spezifischen hypothetischen Ablauf der Augenevolution sprechen.

Die heutige Evolutionsbiologie, die sich als ateleologisches Programm dem Gegenstand Evolution stellt, möchte grundsätzlich zwei Grundfragen beantworten: Aus welchem Individuum A ist Individuum B hervorgegangen und was sind die Ursachen des Wandels bzw. wie ist dieser auf der Grundlage bekannten biologischen Wissens plausibel erklärbar? Evolutionstheoretische Erklärungen tragen Berichtscharakter, da sie historisch rekonstruktive Theorien sind. Damit kann Evolution (Erklärungsziel) immer nur als ein „Verlauf im hypothetischen Modus“ (Gutmann 2005) und eben nicht als Tatsache (wie eine Mondfinsternis) beschrieben werden. Auch wenn sich die historischen Rekonstruktionen auf kausale oder funktionale Aussagen bzw. Erklärungen der Biologie berufen und somit empirischen Charakter tragen, sind diese jedoch selbst weder Kausal- noch Funktionsaussagen. Eine historische Rekonstruktion der Entstehung des Auges erklärt nicht dessen physiologische Funktion als Sinnesorgan oder ihrer ontogenetischen Verursachung, braucht aber dieses Wissen, um evolutionstheoretische Schlüsse ziehen zu können.

Abschied von der „Evolutionstheorie“

In der Auseinandersetzung mit Ursprungsmodellen, die sich auf einen Schöpfer oder einen intelligenten Designer berufen, muss noch auf folgende Sachverhalte hingewiesen werden. Gegenwärtig naturwissenschaftlich nicht erklärbare, evolutionär vermutete Transformationen müssen nicht prinzipiell unerklärbar sein. Ebenso wenig können diese Leerstellen als naturwissenschaftlicher Beleg für eine wie auch immer geartete Teleologie gelten. Das widerspricht allerdings nicht der Tatsache, dass neben anderen Gründen die Erklärungsdefizite von Evolutionstheorien (s. o.) Evolutionskritiker motivieren können, eine übernatürliche Ursache für die Existenz des Lebens ins Spiel zu bringen und nach Belegen dafür zu suchen (vgl. Junker 2009). Doch das ist eine Vorgehensweise, die als Grenzüberschreitung über die in der Naturwissenschaft geltende Methodologie hinaus zu kennzeichnen ist. Aber auch die Behauptung, alles sei prinzipiell im biologisch naturwissenschaftlichen Diskurs erklärbar, ist allein im wissenschaftlichen Kontext nicht möglich. Wer anderes behauptet, erhebt den Anspruch ein vollständiges Wissen über die Natur zu haben!

In dem bereits angesprochenen Buch „Tatsache Evolution“ von Kutschera (2009) findet sich unter der Überschrift „Abschied von der Evolutionstheorie…“ ein aufschlussreiches Resümee. Die Biologen haben Ende der 1990er Jahre erkannt, dass die Synthetische Theorie der biologischen Evolution einer Erweiterung bedarf, die nun als „Erweiterte Synthetische Theorie (Expanded Synthesis)“ bezeichnet wird.

„Als System zahlreicher Unter-Theorien erklärt diese evolvierte Version „der Evolutionstheorie“ verschiedene Aspekte des dokumentierten Artwandels aller Organismen. Wir sprechen daher auch von der Fachdisziplin Evolutionsbiologie, […] Wie bereits oben erwähnt, sprechen die Biologen daher nicht mehr von „der Evolutionstheorie“, sondern beziehen sich auf verschiedene Unter-Theorien der Expanded Synthesis (d.h. die Wissenschaftsdisziplin Evolutionsbiologie)“ (Kutschera 2009, 305-306, Hervorhebungen im Original).

Es ist damit also öffentlich bestätigt, dass es „die Evolutionstheorie“ nicht gibt. Kutscheras Alternative, statt der Einzeltheorie jetzt die Synthese der vielen Unter-Theorien (Expanded Synthesis) zu bewerten, übergeht jedoch, dass eine tatsächliche Synthese im Sinne einer einheitlichen theoretischen Konzeption innerhalb der Evolutionsbiologie nicht existiert und noch nicht einmal in Ansätzen in Sicht ist. Eine Synthese theoretischer Konzeptionen in der Wissenschaft gelingt nämlich nicht einfach dadurch, dass man die sich ausschließenden und widersprechenden Ansätze (z. B. Konstruktionsmorphologie und SET, darwinistische und nichtdarwinistische Positionen usw.) unter einen Namen zwingt. Zweitens ist der Versuch Kutscheras, die vielfältig unter dem Dach der Evolutionsbiologie genutzten Methoden als einen Ausdruck der real existierenden „Expanded Synthesis“ zu präsentieren, ein leicht zu durchschauender wissenschaftstheoretischer Taschenspielertrick. Die fehlende Einheit auf der Ebene der Theorienbildung kann nicht dadurch ersetzt werden, dass man auf die gemeinsam genutzten Methoden in der Evolutionsbiologie abhebt. Eine einheitliche Geschichte des Lebens ergibt sich nicht einfach daraus, dass alle durch das gleiche Mikroskop sehen.

„Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht …“

Kann die moderne Biologie als erfolgreiche Wissenschaft vom Leben mit ihren riesigen Schätzen an Erkenntnissen und Theorien überleben, wenn Evolution als Tatsache in Frage gestellt wird und sich nicht als „realhistorischer Prozess“ bestätigen lässt? Oder anders gefragt: wie viel Evolution braucht die Biologie, um als Naturwissenschaft überlebensfähig zu sein? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht trivial, weil es zum eingeschliffenen Ritual geworden ist, jede Infragestellung von Evolution und jede Kritik an evolutionstheoretischen Entwürfen als Angriff auf die gesamte Biologie und die wissenschaftlichen Methoden auszurufen (z. B. Kutschera et al. 2007). Der in diesem Beitrag sicherlich nur unvollständige Gang durch die wissenschaftstheoretischen Grundlagen ateleologischer Ursprungsmodelle führt diese Pauschalaussagen schnell ad absurdum.„Bei der reflexiven regressiven Redeform (Erklärung ohne Rückgriff auf einen Agenten und ausgehend von der Gegenwart in die Vergangenheit, HU) zeigt sich eine bemerkenswerte Asymmetrie zwischen „funktionalen“ und „naturhistorischen“ Theorien. […] Denn unstrittig lässt sich eine molekularbiologische Beschreibung etwa der Nierenfunktion als wahr auszeichnen, ohne dass auf nur eine einzige evolutionsbiologische Aussage zurückgegriffen werden müsste. Umgekehrt gelingt die Beschreibung der evolutiven Genese etwa des Vertebratennephrons […] überhaupt nur unter der Bedingung, dass schon gelungene molekularbiologische Beschreibungen der Nierenfunktionen vorliegen“ (Gutmann 2005, 259).Die Biologie als empirische Naturwissenschaft stellt an ihren Forschungsgegenstand, das Leben, verschiedene Fragen. Das „Wie“ des Lebens wird mittels der funktional-analytisch arbeitenden Biologie erarbeitet; das „Woher“ steht im Zentrum der Evolutionsbiologie. Es wurde gezeigt, dass Aussagen innerhalb der funktional-analytisch arbeitenden Biologie prinzipiell formulierbar sind, ohne dass auf Vorwissen aus evolutionsbiologischen Aussagen zurückgegriffen werden müsste. Die Ergebnisse der Biologie bilden selbst erst das Rückgrat für evolutionstheoretisch begründete, hypothetische Rekonstruktionen. Deshalb sind Evolutionstheorien als methodologisch mögliche aber letztlich nachgeordnete Typen wissenschaftlicher Begründungen innerhalb der Biologie zu bestimmen. „Insofern wäre sie (die Evolutionstheorie, HU) für die (in der Regel funktional orientierte) laborwissenschaftliche Praxis irrelevant“ (Gutmann 2005, 263). Der Fortschritt der Biologie vollzog sich unbeeindruckt von der Fülle der in den letzten 150 Jahren verfolgten evolutionstheoretischen Ansätze. Neue Erkenntnisse finden zwar schnell Eingang in evolutionäre Hypothesenbildungen (z. B. führte die Entdeckung der Homöobox-Gene u.a. zum Aufschwung von Evo-Devo, vgl. z. B. Laubichler 2005; Stotz 2005b) oder widerlegen vorhandene Konzeptionen (die Wiederentdeckung der Vererbungsregeln Mendels zu Beginn des 20. Jh. diente u. a. zur Widerlegung des Lamarckismus). Umgekehrt berührt das Scheitern eines evolutionstheoretischen Ansatzes die funktional-analytisch arbeitende Biologie nicht. Diese Einsicht ist jedoch alles andere als neu:

„Ebenso wie sich zeigen lässt, daß Bestandteile des späteren Darwinismus lange vor 1859 bekannt waren, lässt sich nun die viel wichtigere Tatsache erhärten, dass der Darwinismus weithin das Wesen der vergleichend-anatomischen Forschung keineswegs umgestaltet hat. […] Rein äußerlich betrachtet – […] – geschah nichts anderes, als dass die bisherigen Vorstellungen im Sinne der Descendenztheorie umgedeutet wurden“ (Lubosch 1927, 38).

Inwiefern profitiert die Biologie nun von der Evolution? Evolutionäre Berichte verleihen dem reinen „Bedeutungsphänomen“ der funktionalen Biologie eine Sinnsphäre, welche heuristisch innovativ auch Fragerichtungen der eigenen Wissensentwicklung hervorbrachte und bestimmte. Evolution als Leitidee ist der von den meisten Biologen gegenwärtig favorisierte Ausdruck eines erfolgreichen ontologischen Zuganges zur Wirklichkeit. Ist dieser evolutionäre Denkrahmen jedoch der einzig mögliche und Erfolg versprechende? Die Geschichte belegt, dass vor der Ära der Evolution (18. und 19. Jh.) andere Sinnsphären, die auch von Schöpfungsideen geprägt wurden, eine überaus facettenreiche Biologie ermöglichten. Ich behaupte, dass auch heute außerhalb eines evolutionären Paradigmas Biologie als empirische Wissenschaft möglich ist, mit vielen innovativen und spektakulären Ergebnissen. Die Natur unter der Leitidee Schöpfung zu betrachten lädt ein zur detaillierten und akribischen Erforschung sämtlicher Details und sich aufdrängender Zusammenhänge und ihrer alternativen theoretischen Modellierung (z. B. Grundtypenbiologie). Beispielsweise stellt die Suche nach naturwissenschaftlichen Erklärungen für die Existenz, den Aufbau oder die Funktion von Organen oder Organbestandteilen, die als vermeintliche Konstruktionsfehler scheinbar nur aus evolutionärer Perspektive Sinn machen (z. B. inverse Netzhaut, Wurmfortsatz, Überkreuzung von Luftröhre und Speisekanal beim Menschen) ein besonders spannendes Feld für die Schöpfungsforschung dar.

Zur Evolution als Leitidee einer ateleologischen Ursprungsforschung gibt es innerhalb der naturalistisch-reduktionistischen Perspektive keine aktuell verfolgte wissenschaftliche Alternative. ID und Schöpfungsforschung können innerhalb dieser Perspektive eine wissenschaftliche Alternative nicht liefern, da bei ihnen prinzipiell infrage gestellt wird, dass natürliche Faktoren ausreichen, um das „Woher“ des Lebens zu erklären. Wissenschaftliche Evolutionskritik bedeutet nicht pauschal Kritik oder Ablehnung der Wissenschaften, sondern die kritische Wertung vorgelegter Argumente und Theorien auf der Basis naturwissenschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Überlegungen, die das „Wie“ und das „Dass“ der Evolution scheinbar begründen (Junker & Scherer 2006; Ullrich & Junker 2008). An weiterer Evolutionsforschung sowie an einer naturwissenschaftlichen Evolutionskritik führt kein Weg vorbei. Verzicht oder Verbot weiterer Evolutionsforschung kennzeichnet ideologisch-fundamentalistische Varianten des Kreationismus; die Ignoranz einer kritischen Hinterfragung der Begründungen von Evolution und der methodischen Grenzen von Evolutionsforschung sind Kennzeichen eines fundamentalistischen Evolutionismus (Scherer 2007). Beides ist wissenschaftsfeindlich.

Dank: Mein Dank gilt allen, die mich zu diesen Beitrag motiviert und diesen durch ihre kritischen und hilfreichen Anmerkungen mitgestaltet haben. Besonders danke ich Dr. Reinhard Junker und Dr. Markus Widenmeyer für die vielen wertvollen fachlichen und stilistischen Hinweise, die ich gerne – und so hoffe ich – in entsprechender Weise berücksichtigt habe. Die Verantwortung für den Inhalt liegt dennoch allein beim Autor.

Glossar

ateleologisch: ohne Zielvorgabe bzw. ohne Zielorientierung. Emergenz: Unableitbare Herausbildung einer neuen Eigenschaft oder Struktur in einem System durch das Zusammenspiel seiner Elemente („das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“). Entität: Existierendes, Seiendes. Hypostasierung: Nutzung abstrakter Ausdrücke in einer Form, dass sie für Realitäten oder Tatsachen gehalten werden. ID (Intelligent Design): Ansatz zur Erklärung der Entstehung der Lebewesen im Rahmen einer › teleologischen Ursprungssicht. Das heißt: Die Lebewesen sind durch Planung und das zielorientierte Wirken eines Akteurs (Designers) entstanden. Der klassische ID-Ansatz macht dabei keine Aussage über die Identität des Designers. Naturalismus: Wirklichkeitsverständnis, wonach alles Seiende letztlich auf materiellen Dingen (Materie-Energie) basiert und letztlich aus natürlichen, gesetzmäßig beschreibbaren, nicht-teleologischen Prozessen hervorgegangen ist. nomothetisch: gesetzmäßig beschreibbar. Ontologie: Seinslehre, es geht dabei um die Grundstrukturen der Realität. Teleologie: Lehre von den Zwecken und von der Zielgerichtetheit von Vorgängen.

Literatur

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Quelle: Studium Integrale Journal 17. Jahrgang / Heft 2 – November 2010, Seite 76 – 87
Leicht gekürzter Abdruck (ohne Schaubilder)
Vollständiger Abdruck: www.wort-und-wissen.de

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Dieser Beitrag wurde erstellt am Dienstag 28. Juli 2015 um 21:16 und abgelegt unter Schöpfung / Evolution.