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Ein Gespräch mit dem Neurobiologen Michael Meaney

Mütterliche Zuwendung mildert die Stressempfindlichkeit

Frühkindliche Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren im Erbgut – das ist eine Erkenntnis, zu der Michael Meaney massgeblich beigetragen hat. Im Gespräch mit Nicola von Lutterotti erläutert der renommierte Neurobiologe, wie sich Angst und Stress der Mutter auf die Hirnentwicklung des Kindes auswirken.

Herr Meaney, was hat Ihr Interesse an den Folgen frühkindlicher Erfahrungen geweckt?

Bereits in den 1950er und 1960er Jahren beschrieben Forscher aus Montreal, wie Stress die Entstehung etlicher Krankheiten fördert. Ich selber habe mich von jeher dafür interessiert, weshalb manche Menschen stressresistent sind und andere nicht. Dabei kam mir der Gedanke, den Unterschied in den frühkindlichen Erlebnissen zu suchen. Meine erste Frage dabei war: Was ist das Prägendste am Lebensanfang?

Die Mutter?

Genau. Die Mutter bestimmt das Umfeld des Kindes, und zwar vollständig vor der Geburt und zu einem erheblichen Anteil danach. Wie wir dann bei Ratten beobachtet haben, kümmern sich manche Weibchen ausgesprochen liebevoll um ihre Brut und lecken diese ständig ab, während andere ihrem Nachwuchs nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Das Leckverhalten der Mutter beeinflusst sowohl die Hirnentwicklung als auch das Körperwachstum des Kindes.

Die Zuwendung der Mutter stimuliert auch das Körperwachstum?

Ja, auf jeden Fall. Bevor wir mit unseren Studien begannen, hatten andere Forscher bereits herausgefunden, dass liebevolle mütterliche Zuwendung die Ausschüttung von Wachstumshormon beim Kind steigert. Dieser Botenstoff spielt bei der Entwicklung sämtlicher Körpergewebe eine zentrale Rolle. Das heisst: Der gesamte Körper steht unter dem Einfluss der mütterlichen Pflege, nicht nur das Gehirn. Wie wir dann feststellten, beeinflusst die Fürsorglichkeit der Mutter die Aktivität von Genen im kindlichen Hirn, die an der Steuerung der Stressempfindlichkeit mitwirken: je intensiver dabei die mütterliche Brutpflege, desto mehr werden die betreffenden Erbanlagen zum Schweigen gebracht und umso weniger empfindlich reagieren die Kinder im späteren Leben auf Stress. Und umgekehrt entwickeln sich Rattenwelpen, die von ihrer Mutter wenig abgeschleckt werden, zu schreckhaften Wesen.

Wie Sie entdeckt haben, beeinflusst die mütterliche Zuwendung die Aktivität eines Gens, das die Bauanleitung des Glukokortikoid-Rezeptors trägt. Dabei handelt es sich um die zelluläre Andockstelle eines Hormons, das beruhigende Wirkungen entfaltet. Je grösser die Zahl der betreffenden Rezeptoren im Hippocampus – einem unter anderem für das Gedächtnis zuständigen Hirnareal –, desto weniger leicht lässt sich das Tier aus der Ruhe bringen. Gibt es Hinweise, dass beim Menschen ähnliche Prozesse ablaufen?

Absolut! An diesem Thema waren wir sehr interessiert. Ausgesprochen hilfreich war für uns dabei die Zusammenarbeit mit dem Psychiater Gustavo Turecki, der die Hirngewebe-Bank der McGill University leitet. Wie unsere Untersuchungen zeigen, besteht auch beim Menschen ein enger Zusammenhang zwischen den frühkindlichen Erfahrungen und der Aktivität des erwähnten Rezeptor-Gens: Je mehr die Personen im Kindesalter missbraucht oder vernachlässigt worden waren, desto nachhaltiger war dieses Gen abgeschaltet.

Um auf die Erfahrungen im Mutterleib zurückzukommen: Wie kann man nachweisen, dass das Verhalten der werdenden Mutter das Gehirn des heranwachsenden Lebens prägt? Lassen sich die Erfahrungen vor und nach der Geburt überhaupt strikt voneinander trennen? Wenn eine Schwangere an Depressionen leidet oder in schwierigen Verhältnissen lebt, dann bleibt diese Situation nach der Geburt doch in aller Regel bestehen.

Die Frage ist absolut berechtigt. In den meisten Studien lassen sich solche Erfahrungen in der Tat nur schwer trennen. Denn natürlich ist es so: Frauen, die während der Schwangerschaft ängstlich oder auch depressiv sind, bleiben meist auch nach der Niederkunft ängstlich oder depressiv. Es gibt jedoch Belege, dass die Prägung bereits während der Fetalentwicklung stattfindet. So konnten wir unlängst zeigen, dass das Gehirn von Neugeborenen, deren Mütter während der Schwangerschaft an starken Ängsten litten, ganz spezifische Veränderungen aufweist – und zwar in Regionen, die bei der Entwicklung von Angststörungen eine wichtige Rolle spielen.

Lassen sich solche Prägungen rückgängig machen? Etwa wenn ein Kind, das im Mutterleib Stress ausgesetzt war, später adoptiert wird?

Laut den bisherigen Erkenntnissen lassen sich die Veränderungen in den ersten Monaten und vielleicht Jahren höchstwahrscheinlich noch rückgängig machen. Am Lebensanfang kann man das Rad vermutlich noch zurückdrehen und die Anfälligkeit für Stress daher noch beheben.

Es gibt ja eine ganze Reihe von teilweise sehr erfolgreichen Programmen mit dem Ziel, die Entwicklung von Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen positiv zu beeinflussen . . .

Am effektivsten sind jene, die nicht nur dem Kind, sondern vor allem den Eltern helfen. Denn ohne aktive Einbindung der Eltern, das lehrt die Erfahrung, ist es schwierig bis unmöglich, die kindliche Entwicklung günstig zu beeinflussen. Die Programme weisen zwar teilweise erhebliche Unterschiede auf. Letztlich streben aber alle an, die Eltern dazu zu bringen, mehr Geduld, Verständnis und Umsicht bei der Erziehung ihrer Kinder walten zu lassen.

Wäre es nicht noch effektiver, wenn man bereits in der Schwangerschaft ansetzt, damit das Kind erst gar keinen Stress erleidet?

In der Tat. Wie wichtig es ist, möglichst frühzeitig einzugreifen, lässt sich am Beispiel des Schwangerschaftsdiabetes veranschaulichen: Die Kinder kranker Frauen tragen ein hohes Risiko, später fettleibig zu werden und selbst an Diabetes zu erkranken. Früher ging man davon aus, das sei ausschliesslich genetisch bedingt und lasse sich daher schwer ändern. Wie man inzwischen jedoch weiss, trifft die Erbanlagen nicht die alleinige Schuld. So lässt die Erkrankungsgefahr merklich nach, wenn man den Diabetes der werdenden Mutter behandelt.

Gibt es neben dem von Ihnen beschriebenen noch weitere Gene, die empfindlich auf Stress während der Schwangerschaft reagieren?

Ja. Das Verhalten der Mutter prägt etliche, an der Regulation der Stressantwort beteiligte Erbanlagen. Dabei handelt es sich um ein ganzes Netzwerk von Genen. Denn einzelne Gene sind kaum in der Lage, das Verhalten nachhaltig zu beeinflussen.

Was könnte der biologische Sinn hinter den unterschiedlichen Stressempfindlichkeiten sein? Die Natur geht ja in der Regel nicht unüberlegt vor.

In der Tat! Grundsätzlich geht es bei jedem Lebewesen erstens ums Überleben und zweitens um die Fortpflanzung. Aus evolutionsbiologischer Sicht bedeutet eine feindselige Umgebung entweder viele Fressfeinde, wenig Nahrung oder viele Infektionen. In einem solchen Umfeld ist eine starke Stressreaktion von Vorteil, da sie die Überlebenschancen verbessert. So erhöht sie einerseits die Schreckhaftigkeit und damit die Fähigkeit, rasch die Flucht zu ergreifen. Und andererseits erlaubt sie es, Hungerzeiten und Infektionen besser zu überstehen. Denn die Stresshormone verringern das Risiko, dass eine schwere bakterielle Infektion in einen septischen Schock [eine oft tödlich endende Blutvergiftung] mündet. Umgekehrt reagieren Personen, bei denen bakterielle Infektionen einen septischen Schock auslösen, oft ausgesprochen unempfindlich auf Stresshormone. Daraus kann man folgern: Erhalten Kinder von ihrer Mutter wenig Nestwärme, werden sie auf eine gefahrvolle Zukunft mit verminderter Überlebenswahrscheinlichkeit vorbereitet. Das Ausmass an Stress, dem die Mutter ausgesetzt ist, bestimmt somit die Qualität der Kindererziehung, und zwar gleichermassen bei Mensch und Tier. Strapaziöse Umweltbedingungen hindern die Mutter daran, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Damit signalisiert sie ihren Kindern, natürlich unbewusst, dass sie sich auf eine wenig behagliche Zukunft einstellen müssen.

Können Kinder, die viel Nestwärme erhalten, somit nur schlecht in einem gefahrenreichen Umfeld überleben?

Das ist eine sehr radikale Sichtweise. Im Prinzip stimmt sie jedoch. Denn das Gehirn besitzt nur ein begrenztes Ausmass an Energie, die es auf zweierlei Art investieren kann: in Zentren, die dafür sorgen, dass man beständig auf der Hut ist, drohende Gefahren rasch erkennt und sich umgehend in Sicherheit bringt – oder aber in Areale, die zum Lernen und für die Gedächtnisleistung vonnöten sind. Indem sie die Entwicklung in die eine oder andere Richtung lenkt, modelliert die Mutter somit das Gehirn ihrer Kinder, freilich unwissentlich. Diese Prägung hält ein Leben lang und überträgt sich meist auch auf die Enkel – es sei denn, die Umweltbedingungen ändern sich schlagartig.

Der in Montreal tätige Neurobiologe Michael Meaney erhielt am 5. Dezember den Klaus J. Jacobs Research Prize 2014 der Zürcher Jacobs Foundation, der mit 1,2 Millionen Franken dotiert ist – eine der weltweit höchstdotierten Auszeichnungen ihrer Art.

Erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung [1]“ am 05. Dezember 2014″, Nicola von Lutterotti

Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung